Was Jesus lehrte. Und wie er es tat. Eine Unterrichtsstunde zu Wundererzählungen, an deren Ende niemand fragte, ob die Wunder Jesu „tatsächlich“ geschehen sind.
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Horst Heller
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Eine normale Religionsstunde in der 9. Klasse. Es ging um Wundererzählungen im Neuen Testaments. Ich teilte ein Arbeitsblatt aus. Darauf stand, was ich selbst im Studium gelernt hatte. Die Heilungswunder Jesu sind wahrscheinlich so oder so ähnlich geschehen, bei den Naturwundern weiß man es nicht so genau. Am Ende der Stunde stellte ich fest: Meine Schülerinnen und Schüler interessierte das nicht. Ich fragte mich. Wenn Jesus wirklich Menschen heilen konnte, warum langweilte sie das? Wenn sie es nicht glauben konnten, warum protestierten sie nicht?
Diese Unterrichtsstunde liegt schon viele Jahre zurück. Inzwischen glaube ich die Antwort auf meine Frage zu kennen. Sie war so naheliegend, dass es mich wundert, dass ich nicht früher darauf gekommen bin. Für meine Schülerinnen und Schüler war es unerheblich, ob Jesus zu seiner Zeit Menschen geheilt hat. Denn er tut es ja offenbar nicht mehr. Anders formuliert: Wenn es heute noch Spontanheilungen gäbe, die durch Gott oder Jesus bewirkt werden, dann könnte es sich vielleicht lohnen, der Historizität der Wunder Jesu nachzugehen. Vielleicht.
Es war also ein Fehler, eine Frage, die mich in meinem Studium beschäftigt hatte, zum Unterrichtsinhalt zu machen. Besser hätte ich das Zeichenhafte, das über die eigentliche Heilungen hinausweist, ins Zentrum der Stunde gerückt. Warum heilte Jesus? Warum wollte Jesus, dass Menschen gesund und glücklich sind? Warum war es den Evangelisten wichtig, davon zu erzählen? Im Nachdenken darüber stellte ich fest: Was Jesus wichtig war, lässt sich nicht nur an den neutestamentlichen Wundergeschichten zeigen, sondern in gleicher Weise auch an den Zeichenhandlungen Jesu und an seinen Gleichnissen. Die Idee für eine Stunde war geboren.
Ein Unterrichtsvorschlag
Schritt 1: Arbeitsteilige Gruppenarbeit
Die Schülerinnen und Schüler beschäftigen sich mit vier biblischen Erzähltexten. Es handelt sich das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32), die Geschichte von Zachäus (Lk 19,1-10), die Erzählung vom Festmahl (Lk 14,15-24), die Heilung des Bartimäus (Mk 10,46-52).
Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die diesen Beitrag bis hierher gelesen haben, fällt auf: Nur eine dieser vier Bibeltexte ist eine Wundererzählung.
Arbeitsauftrag für die Gruppenarbeit
- Überlegt euch eine kreative Überschrift.
- Stellt euch vor, ihr hättet die Geschichte bereits vergessen. Sucht drei Worte aus, die im Text nicht vorkommen. Wenn ihr sie hört, fällt euch die ganze Geschichte wieder ein.
- Notiert den (für euch) wichtigsten Satz eurer Bibelgeschichte.
- Jesus war ein Lehrer. Was er sagte oder tat, sollte etwas erklären. Was ist „die Moral” eurer Geschichte? Formuliert sie in einem Satz.
- Lehrt Jesus in eurer Geschichte durch eine Rede oder durch eine Handlung?
Hier sind Ergebnisse der Gruppenarbeit:
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn
Kreative Überschrift: Rückkehr und Vergebung
Drei Worte: verprassen, bedenken, Vergebung
Der wichtigste Satz: „Mein Sohn war verloren und ist wiedergefunden worden.“
Jesus der Lehrer: Gott vergibt, egal wie schlimm die Tat ist, wenn man bereut.
Rede oder Handlung? Jesus lehrt durch eine Erzählung.
Provokative Freude. Das Gleichnis vom gütigen Vater und seinem verlorenen Sohn
Die Geschichte von Zachäus
Kreative Überschrift: Zachäus ändert sein Leben
Drei Worte: Nächstenliebe, Einsicht, Vergebung
Der wichtigste Satz: „Die Hälfte meines Besitzes gebe ich den Armen.“
Jesus der Lehrer: Du kannst dein Leben ändern und neu beginnen.
Rede oder Handlung? Jesus lehrt durch eine Tat: Er geht zu Zachäus zum Essen.
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Die Erzählung vom Festmahl
Kreative Überschrift: Das Abendmahl der Armen
Drei Worte: Feiern, Ausreden, Nächstenliebe
Der wichtigste Satz: „Kommt, denn es ist alles bereit!“
Jesus der Lehrer: Egal ob Geld oder kein Geld, alle Menschen sind gleich.
Rede oder Handlung? Jesus lehrt durch eine Erzählung
„Das gibt’s doch gar nicht!“ Die Geschichte von Bartimäus als religionspädagogische Herausforderung
Die Heilung des Bartimäus
Kreative Überschrift: Die besondere Heilung
Drei Worte: blind, Glaube, Wunder
Der wichtigste Satz: „Dein Glaube hat dir geholfen.“
Jesus der Lehrer: Niemand soll wegen Vorurteilen ausgeschlossen sein.
Rede oder Handlung? Jesus lehrt durch die Worte, die er an Bartimäus richtet, und durch eine Tat.
Die Schülerinnen und Schüler präsentieren, was sie erarbeitet haben. Die drei ausgewählten zentralen Worte ihres Bibeltextes ermöglichen ihnen eine korrekte Nacherzählung der Geschichte, ohne Entscheidendes auszulassen. Es entsteht eine Übersicht der Ergebnisse der Gruppenarbeit in Tabellenform an der (digitalen) Tafel.
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Schritt 2: Unterrichtsgespräch
Es wird erarbeitet, inwieweit die mit der biblischen Geschichte verbundenen Lehren miteinander harmonieren. Es zeigt sich, dass sich die Motive der Geschichten ähneln. Beispiele:
– Der verlorene Sohn und Zachäus dürfen neu beginnen.
– Zachäus und Bartimäus können in die Gemeinschaft der Menschen von Jericho zurückkehren.
– Die Gäste beim Festmahl und der verlorene Sohn erleben eine wunderbare Überraschung.
Das Unterrichtsgespräch nähert sich somit dem Kern der Botschaft Jesu, denn die vier untersuchten Bibeltexte sind Jesusgeschichten. Sie alle erzählen, dass Menschen etwas Gutes, etwas Beglückendes widerfährt. Jesus lehrte, dass Gott will, dass es den Menschen und ihrer Gemeinschaft gut geht. Dazu müssen alle etwas beitragen. Einige sind aufgefordert, ihr Leben ändern. Jesus möchte, dass die Menschen seinen Worten Glauben schenken.
Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, die diesen Beitrag nun auch bis hierher gelesen haben, fällt auf: Die Wundergeschichte unter den vier Bibelerzählungen lehrt nichts anderes als die drei Geschichten, die ohne ein Wunder auskommen.
Schritt 3: Ein Gedankenexperiment
Ich führe die drei Gattungsbegriffe Gleichnis, Zeichenhandlung und Wundergeschichte ein und erläutere sie.
Eine Zeichenhandlung macht die Haltung einer Person zu einer bestimmten Frage öffentlich sichtbar und verzichtet dabei auf wortreiche Erklärungen. Ein Beispiel: Wenn der bayerische Ministerpräsident vor Journalisten in eine fette Bratwurst beißt, dann macht er damit klar, was er von fleischloser Kost hält. Bei dieser Zeichenhandlung lässt er sich fotografieren. Es bedarf keiner Worte, um seine Botschaft zu verstehen.
Auch Jesus nutzte Zeichenhandlungen für seine Lehre.
Bei Gleichnissen oder Bildworten ist es umgekehrt. Sie nutzen allein das Mittel der Sprache. Ein Beispiel: In einem Lehrerzimmer las ich kürzlich den Satz: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man an ihm zieht.“ Dieser Sinnspruch enthält keine Botschaft für Landschaftsgärtner, sondern für Eltern und Lehrpersonen. Er erläutert mit Hilfe eines Sprachbilds einen pädagogischen Grundsatz: Bildung braucht Zeit und lässt sich nicht beschleunigen. Ein Bildwort besteht oft aus nur einem einzigen Satz. Ein Gleichnis erzählt eine Geschichte. Beide fordern auf, ihre Botschaft zu ergründen.
In den Evangelien finden sich zahlreiche Bildworte und Gleichnisse Jesu.
Für das Wort Wundererzählung bedarf nur weniger Worte. Die Evangelien erzählen von über dreißig Wundertaten Jesu. Es waren unbegreifliche Ereignisse, die die Menschen in Staunen versetzten. Auch hinter den Wundererzählungen des Neuen Testaments verbirgt sich eine Lehre Jesu.
Die Schülerinnen und Schüler ordnen nun die drei Gattungsbegriffe den vier biblischen Geschichten zu. Das bereitet ihnen keine Schwierigkeiten. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn und die Erzählung vom Festmahl sind Gleichnisse, die Geschichte von Zachäus ist eine Zeichenhandlung, die Heilung des Bartimäus ist eine Wundergeschichte. Die Wortkarten werden zu der entsprechenden Geschichte an der (digitalen) Tafel hinzugefügt.
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Ich vertausche nun die Zuordnung der Etikette und provoziere Rückmeldungen.
– Die Wortkarte Wundererzählung schiebe ich probeweise zur Geschichte von Zachäus. Nach einigem Nachdenken stellen meine Schülerinnen und Schüler fest: Dass dieser Mensch sein Leben änderte, war ein unerwartetes Ereignis, das Menschen in Staunen versetzte. In gewisser Weise ist die Erzählung von Zachäus eine Wundergeschichte.
– Die Wortkarte Zeichenhandlung verschiebe ich zur Geschichte von Bartimäus. Und auch hier finde ich Zustimmung in meiner Lerngruppe. Bartimäus war erblindet und musste um Brot betteln. Jesus wollte nicht, dass Menschen so leben müssen. Die Anwesenden verstanden das sofort
Es zeigt sich, dass nicht jede Wortkarte zu jeder Geschichte passt. Es wird aber deutlich, dass die Textgattung nicht entscheidend ist, wenn wir zentrale Inhalte der Lehre Jesu ergründen wollen.
In dieser Stunde fragte übrigens niemand, ob die Wundertaten Jesu „tatsächlich“ geschehen sind. Das war nicht mehr wichtig. Die Intention dieses Unterrichts war auch eine andere. Sie fragte nach der Botschaft Jesu, die sich in den Wundergeschichten verbirgt, die aber nicht nur dort zu entdecken ist.
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