"Erst das Gewissen, dann der Papst" / Ernennung von John Henry Newman zum Kirchenlehrer sorgt für Debatte
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Nur 37 Persönlichkeiten in der gesamten Kirchengeschichte tragen bisher den Titel "Kirchenlehrer". Nun wird dieser Kreis um eine weitere Person ergänzt: den britischen Heiligen John Henry Newman.
Papst Leo XIV. hat ihn in den Rang eines Kirchenlehrers erhoben. Doch was macht Newman für die Gegenwart bedeutsam und warum ist seine Erhebung mehr als eine reine kirchliche Ehrung?
Ein Leben zwischen den Welten
John Henry Newman (1801–1890) wuchs in England anglikanisch sozialisiert auf. 1825 wurde er zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht. Als einer der führenden Köpfe der Oxford-Bewegung wollte er die Church of England durch Rückbesinnung auf die Kirchenväter erneuern.
Immer mehr kam er dabei zu der Einsicht, dass für ihn nur die römisch-katholische Kirche den Glauben in seiner Ganzheit über die Jahrhunderte hinweg getreu bewahrt habe. Nach langen inneren Kämpfen konvertierte er daher als 1845 zum Katholizismus. Zwei Jahre später folgte seine Priesterweihe in Rom.
Im Spannungsfeld des 19. Jahrhunderts
"Die Väter haben mich katholisch gemacht", wird er selbst später über die Kirchenväter schreiben. "Die anglikanische Gemeinschaft zu verlassen, fiel ihm alles andere als leicht", ordnet der Kölner Prälat Helmut Moll, Historiker und Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für das Martyrologium des 20. Jahrhunderts, ein.
Die Konversion war nicht nur ein theologischer, sondern auch ein kultureller Bruch. "Er lebte im Spannungsfeld von Industrialisierung, Liberalismus, Karl Marx und Darwins Evolutionstheorie." So beschreibt der Innsbrucker Theologe Roman Siebenrock Newman.
Siebenrock ist Vorsitzender der Internationalen Deutschen Newman-Gesellschaft und einer der führenden Experten für das Zweite Vatikanische Konzil. Newman durchlebte die Transformation einer protestantischen Nation in eine liberale, welcher er kritisch gegenüberstand. Dieser ganze Prozess habe Newman erheblich geprägt, so Siebenrock.
Theologie als Brückenbau
Newman blieb in Verbindung mit seiner anglikanischen Herkunft trotz – oder gerade wegen – seines Übertritts. Für Johannes Arens, Domkapitular an der anglikanischen Kathedrale in Leicester (England), ist bedeutsam, dass Newman die meisten seiner Bücher, Lieder und Werke als Anglikaner geschrieben hat. "Dass der Papst ihn jetzt zum Kirchenlehrer erhebt, zeigt, dass er die anglikanische Theologie sieht", folgert Arens.
Peter Becker, Universitätsassistent am Institut für Historische Theologie der Universität Wien und Mitglied der Internationalen Deutschen Newman-Gesellschaft, spricht von Newmans "Unitive Power" – der Fähigkeit, unterschiedliche Traditionen und theologische Anliegen zusammenzuführen.
Newman sei kein Parteigänger gewesen, sondern habe eigenständig gedacht und auch gegen Widerstände nach der Wahrheit gesucht. Auf diesem Weg, der ihn vom Evangelikalismus der englischen Kirche zum Katholizismus führte, versuchte er, das Wahre aus allen Strömungen zu integrieren. Dies entspreche, so Becker, auch einem Merkmal, das für Newman eine Stärke des katholischen Glaubens und ein Kriterium für gelungene Entwicklung darstellt: das Vermögen zur Assimilierung.
So könne nach Newman, eine starke Idee andere Elemente aufnehmen, ohne sich zu verlieren. Eine komplette Abgrenzung sei eher ein Zeichen für Schwäche. "Allerdings ist Assimilierung für Newman immer mit einer Unterscheidung zwischen dem, was dem Wachstum dient, und dem, was dem eigenen Wesen zuwiderläuft, verbunden“, unterstreicht Becker.
Gewissen und Entwicklung der Lehre
Zu den bekanntesten theologischen Impulsen Newmans gehört seine Entwicklungslehre. In "An Essay on the Development of Christian Doctrine" beschreibt er Glaube und Dogmen als keine statischen Größen, sondern als etwas, das sich entfaltet und weiterentwickelt.
"Eine permanente Veränderung ist notwendig, um treu zu bleiben", fasst Pater Philip Geister, promovierter Theologe, Jesuit und Rektor des Newman-Instituts in Uppsala (Schweden), zusammen: "Perfekt zu sein heißt, sich ständig verändert zu haben", schrieb Newman.
Das Bild, das Newman selbst dafür gebrauchte, war ein Boot auf einem Fluss, das sich bewegen muss, um einen Schatz nicht zu verlieren. Das Boot steht für die Kirche, der Schatz für die Wahrheit, der Fluss für den Lauf der Zeit, erklärt Geister weiter. Nur wenn sich das Boot bewege – also die Kirche sich entwickle – könne sie der Wahrheit treu bleiben. Stillstand bedeute Verlust.
Der Theologe Siebenrock hebt einen weiteren Punkt hervor: das Gewissen. "Erst das Gewissen, dann der Papst" ist so ein Newman-Zitat. Glaube sei für diesen eine persönliche Beziehung zu Gott, sagt er. Für Newman gab es zwischen dem Gläubigen und Gott keine dritte Instanz, nur "myself and my creator" – ich und mein Schöpfer.
Der Kölner Prälat Moll ergänzt, dass gerade Newman "als Lehrer des Gewissens" eine neue Dimension in die Theologie gebracht habe. Das sei ein zentrales Kriterium für den Titel eines Kirchenlehrers.
Vernunft und Herz
Der Universitätsassistent Becker betont Newmans Fähigkeit, Vernunft und Glaube zu verbinden. "Clear heads and holy hearts" - also klare Köpfe und heilige Herzen - so beschreibe Newman das Ideal eines Christen.
Zwar sei Newman äußerst skeptisch gegenüber einer "Gefühlsreligion", die nur auf gefühlte Stimmungen baut, aber er hebe die Wichtigkeit konkreter Erfahrung hervor. Lebendiger Glaube bleibe nicht in begrifflichen Formeln stehen, sondern spreche den ganzen Menschen an: sein Herz, sein Gewissen und seine Imagination
Auch Geister sieht darin eine Botschaft für die Gegenwart: Theologie müsse "mehr als nur abstrakt" sein und sich auch in Kultur, Kunst, Literatur und Musik zeigen. "Wir brauchen eben das Ganze, den gelebten Glauben. Für mich ist Newman immer eine Erinnerung an all das", sagt Geister.
Ökumenische Bedeutung
Eine "Brückenfigur" zwischen Anglikanismus und Katholizismus nennt der anglikanische Domkapitular Arens Newman. Gleichzeitig verweist er auf ungelöste Fragen, die die Ökumene verbinden könnte: die Gleichberechtigung von Frauen in kirchlichen Ämtern, die Auswirkungen auf das Weihesakrament oder die Neubewertung homosexueller Beziehungen. "Wir haben exakt die gleichen Schwierigkeiten wie die katholische Kirche – und ich habe trotzdem Hoffnung", sagt Arens.
Philip Geister spricht in dem Zusammenhang vor allem von der Bedeutung Newmans als geistiges Vorbild und Impulsgeber für die Einheit der Christenheit. Newman vereine evangelische und katholische Gläubige und viele Kräfte in der römisch-katholischen Kirche selbst.
Papst Benedikt XVI. sprach Newman (Bildmitte) im Jahr 2010 selig, sein Nachfolger Papst Franziskus ihn, wie hier zu sehen, 2019 heilig. Papst Leo XIV. macht Newman nun zum Kirchenlehrer.
Dies zeige sich auch darin, dass er sowohl von eher konservativen als auch von eher liberalen Kreisen in Anspruch genommen wird. "Newman hatte sehr kluge Einsichten, die die Einteilungen in konservativ und liberal überschreiten", sagt Geister.
Programmatisches Signal oder logische Folge?
Ob die Ernennung programmatisch oder lediglich eine liturgische Würdigung ist – darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Für Geister ist die Ernennung "kein rein bürokratischer Akt, sondern eine Fortsetzung der Linie, die schon Papst Benedikt XVI. mit der Seligsprechung begonnen hat".
Siebenrock sieht darin ein mögliches Symbol für Synodalität: "Wenn die Erhebung Newmans ein Programm von Leos Pontifikates ist, dann ist es ein sehr schönes", blickt Siebenrock voraus. Arens interpretiert die Entscheidung als Anerkennung einer Theologie, die stark in der englischen Tradition verwurzelt ist.
Ein Lehrer für die Gegenwart
"Praevalebit Veritas" – "die Wahrheit wird sich durchsetzen" – dieser Satz habe Newman stark geprägt. In einer Zeit, in der Glaubensfragen oft zwischen ideologischen Lagern und gesellschaftlichen Blasen zerrieben werden, sei dies besonders aktuell, meint Becker. Gerade, weil Theologen unterschiedlicher Richtungen sich in seinem Denken wiederfinden könnten. Er sieht in Newman ein Modell für eine Kirche, die ihre Stärke aus Heiligkeit und persönlicher Glaubensweitergabe statt aus institutionellen Strukturen schöpft.
Für Geister kann Newman ein Vorbild "für die Menschen sein, die sich in der Gesellschaft nicht zugehörig fühlen", so wie sich Newman einst selbst fühlte. Für Siebenrock ist Newman ein Zeuge, dass Glaube eine persönliche Erfahrung ist, die mit innerer Konsequenz gelebt werden kann. Arens liest in ihm eine Einladung, Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit zu sehen. Und Moll erkennt: das Gewissen hat durch die Erhebung Newmans seinen Platz gefunden hat.
Die Aufnahme in den Kreis der Kirchenlehrer würdigt Newmans Stimme historisch und holt sie gestärkt in die Gegenwart. Für eine Kirche, die zwischen Tradition und Moderne ihren Weg sucht, könnte Newman als Kirchenlehrer ein Brückenbauer werden.
Kirchenlehrer sind seit einer Festlegung von Papst Benedikt XIV. von der Kirche offiziell ernannte Personen, die sich durch die Heiligkeit ihres Lebens, einen richtigen Glauben und eine herausregende Lehre auszeichnen. In der Liturgie sind sie herausgehoben, in theologischen Beweisgängen werden sie oft herausgestellt.
Zu ihnen zählen Augustinus, Ambrosius, Gregor der Große und Hieronymus, aber auch Thomas von Aquin und viele Päpste, insgesamt über 30 Personen.
Religion
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August 12, 2025 at 02:58PM