„Widerlegen Sie diese Beweise für das Christentum!“ Johann Caspar Lavaters Brief an Moses Mendelssohn und dessen kluge Antwort
https://horstheller.wordpress.com/2025/05/02/lavater-moses-mendelssohn/
Horst Heller
Dieser Beitrag als PDF
Hier geht’s zum neusten Blogbeitrag
Alles begann damit, dass ich in Goethes Gartenhaus am Rande des Parks an der Ilm in einem Durchgangszimmer eine Büste des Schweizer Pfarrers Johann Caspar Lavater entdeckte. Lavater? Was das nicht der Theologe aus Zürich, der Moses Mendelssohn öffentlich aufgefordert hatte, sich taufen zu lassen? War es möglich, dass Goethe einen Mann verehrte, der einen Religionsstreit mit dem jüdischen Philosophen begonnen hatte und über dessen offene Briefe die Gelehrten ihrer Zeit den Kopf schüttelten?
Ein Gemälde von Moritz Daniel Oppenheim zeigt den damals noch jungen Züricher Diakon zusammen mit Gotthold Ephraim Lessing und Mendelssohn in dessen Studierzimmer. Durch die offene Zimmertür tritt seine Frau Fromet herein und versorgt die Herren mit Tee.
Der Besucher beugt sich herausfordernd und selbstbewusst zu seinem Gastgeber und scheint ihm ein Buch aufzudrängen. Vielleicht ist es seine Übersetzung eines Werkes, von dem gleich die Rede sein wird. Mendelssohn nimmt eine nachdenkliche, keineswegs abwehrende Haltung ein. Er hört dem jungen Gast aufmerksam zu. Vor dem Bücherregel steht Lessing, seine Körperhaltung spricht Bände. Er blickt abschätzig oder verärgert auf den anderen Besucher, der offenbar gerade erst seinen Spazierstock abgestellt hat und noch gar nicht recht Platz genommen hat.
Dieses Bild aus dem Jahr 1856 ist eine Fiktion und verbindet drei Ereignisse aus den Jahren 1752 bis 1770. Lessing und Lavater waren nie gemeinsam zu Besuch bei Mendelssohn. Oppenheim zeigt den Besuch des 21-jährigen Lavater bei Mendelssohn im Jahr 1763, als der Züricher Theologe noch ungeteilte Verehrung für den Berliner Philosophen empfand. Lessing war bereits zehn Jahre zuvor nach Berlin gekommen und hatte die Stadt 1760 wieder verlassen. Das Schachbrett auf dem Tisch erinnert daran, dass sich die beiden beim Schachspielen kennengelernt hatten. Schließlich zeigt Oppenheims Bild den Lavater des Jahres 1769, der Mendelssohn bedrängte. Dies geschah allerdings nicht bei einem Besuch, sondern durch eine Veröffentlichung.
„Wir müssen, müssen Freunde werden!“ Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing: Zwei Lebenswege und eine Vision der Toleranz
Die Vorgeschichte: „Beweise“ für das Christentum
In Zürich hatte Lavater große Teile des Buches von Charles Bonnet ins Deutsche übersetzt. Der Titel des französischen Originals lautete Palingénésie philosophique – Philosophische Wiedergeburt. Lavater gab seiner deutschen Ausgabe den Titel Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Er widmete es Moses Mendelssohn, damals der bekannteste deutschsprachige Philosoph seiner Zeit. Statt eines Vorwortes stellte er dem Buch einen offenen Brief an den „verehrungswürdigen Herrn“ voran, in dem er ihn nach einigen Komplimenten unmissverständlich aufforderte, die vorgelegten „Beweise“ entweder zu widerlegen oder sich, „Klugheit, Wahrheitsliebe und Redlichkeit“ achtend, zum Christentum zu bekehren. Selbst Sokrates, so Lavater, wäre Christ geworden, hätte er dieses Buch lesen können.
Charles Bonnet war ein Genfer Biologe, der an der dortigen Universität lehrte. Im Alter lebte er als Privatgelehrter und veröffentlichte philosophische und theologische Schriften, unter ihnen auch die Palingénésie philosophique. Welche Art die angeblichen Beweise in Bonnet Buch waren, kann hier außer Acht bleiben. Denn erstens distanzierte sich der Autor unmissverständlich von Lavaters Missbrauch seines Werks. Und zweitens ging auch Mendelssohn in seiner Antwort kaum auf den Inhalt des Buches ein. Er habe vom hochgeschätzten Bonnet schon bessere Bücher gelesen, merkte er trocken an. Und die vorgelegten Argumente für das Christentum überzeugten vielleicht Menschen, die sich zur christlichen Religion zugehörig fühlen, keineswegs aber Zeitgenossen, die keine Christen seien: „Wenn Schriftsteller und Leser erst über das Resultat einig sind; so vertragen sie sich gar bald über die Gründe.“
Religionsstreitigkeiten waren Mendelssohn zuwider
In seiner Antwort legte Mendelssohn zunächst dar, wie unpassend er die Provokation Lavaters angesichts der ungesicherten Verhältnisse empfand, in denen er und die jüdische Gemeinde in Berlin lebten. Es sei ihm, Mendelssohn, ja nicht einmal gestattet, den „Menschenfreund“ in Zürich einen Gegenbesuch abzustatten. Von einem Angehörigen der Mehrheitsreligion für das Festhalten an seinem Glauben kritisiert zu werden, befremdete ihn zutiefst. Der vom Zaun gebrochene Religionsstreit kann ja in der Tat als Fortsetzung verhängnisvoller Disputationen zwischen jüdischen und christlichen Theologen vergangener Jahrhunderte gesehen werden, in denen Augenhöhe nie beabsichtigt und schon gar nicht verwirklicht worden war.
Was hat Sie bewogen, mich wider meine Neigung […] auf einen öffentlichen Kampfplatz zu führen, den ich so sehr gewünscht, nie betreten zu müssen?
Seine Antwort auf die Herausforderung Lavaters umfasst 35 Druckseiten. Ihr ist anzumerken, wie sehr es ihn ärgerte, für seine Religion öffentlich eintreten zu müssen. Doch Lavater hatte ihn öffentlich herausgefordert. Er musste ihm nun seinerseits öffentlich antworten. Drei der Argumente, die Mendelssohn herausstellt, verdienen besondere Beachtung, auch für unsere Zeit.
Die jüdische Religion verbietet den Versuch, andere Menschen zu bekehren
Nach den Grundsätzen meiner Religion soll ich niemanden, der nicht nach unserem Gesetz geboren ist, zu bekehren suchen. Dieser Geist der Bekehrung […] ist derselben schnurstracks zuwider. […] Wir sollen nicht Missionen nach Indien oder nach Grönland senden, um diesen entfernten Völkern unsere Religion zu predigen.
Nicht nur die Rabbiner, sondern auch der Geist der Aufklärung, der nicht nur Mendelssohn, sondern auch Lavater (eigentlich) verpflichtet waren, untersage es, so Mendelssohn, Menschen wegen ihres Glaubens zu kritisieren oder zu einer Bekehrung aufzufordern.
Aufklärung bedeutet nicht, die Religion der anderen kritisch zu hinterfragen, sondern die eigene
Lavater forderte Mendelssohn auf, seine Religion in Frage zu stellen, und appellierte dabei an die Unparteilichkeit seines Gegenübers. Diese ließ er allerdings vermissen, sobald er über seine eigene Religion sprach. Mendelssohn konnte hier erwidern:
Ich darf sagen, dass ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. Die Pflicht, meine Meinungen und Handlungen zu prüfen, habe ich gar frühzeitig erkannt. […] Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht und Partei ergriffen.
Zweifel sind die Triebfeder jedes gedanklichen Fortschritts. Lavater hatte versäumt, den Zweifel, den er in Mendelssohn wegen dessen Treue zu seiner Religion wecken wollte, auch im Blick auf seine eigene ideologische Theologie zuzulassen.
Religionsstreitigkeiten machen die Welt kein bisschen besser
Nicht Rechtgläubigkeit sei das Gebot der Stunde, sondern die Überwindung von Feindschaft und Intoleranz. Das Entscheidende sei das gemeinsame Bestreben, dem Guten nachzufolgen. Dazu könne jeder in seiner Religion beheimatet bleiben.
Meine Religion, meine Philosophie und mein Stand im bürgerlichen Leben geben mir die wichtigsten Gründe an die Hand, alle Religionsstreitigkeiten zu vermeiden, und in öffentlichen Schriften nur von den Wahrheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig sein müssen. […] Mich dünkt, wer in diesem Leben die Menschen zur Tugend anführet, kann in jenem nicht verdammt werden.
Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Kirche und meiner Religion trotzdem treu bleibe
Was bewegte Lavater zu einem plumpen Bekehrungsversuch?
Lavater war ein Gelehrter, Wissenschaften faszinierten ihn. Er verkehrte mit zeitgenössischen Denkern und besuchte auf seinen Reisen auch einige von ihnen. Im Rahmen der christlichen Lehre stand er für die Freiheit des Denkens. Aber das Zentrum seines Koordinatensystems blieben die Rechtgläubigkeit und eine wunderaffine Glaubensphilosophie. Er war davon überzeugt, dass mit dem aufgeklärten Denken die Wahrheit des Christentums an den Tag kommen werde. Er machte sich aber nicht klar, in welch prekäre Lage er Mendelssohn und die jüdische Gemeinde in Berlin brachte. Sie kämpften ja – bislang vergeblich – um Gleichstellung. Ein Perspektivwechsel wäre hier erforderlich gewesen. So nahm er in Kauf, dass die öffentliche Auseinandersetzung bei Mendelssohn ein Nervenleiden verursachte, was ihn mehrere Jahre daran hinderte, publizistisch tätig zu sein.
„Das muss jeder für sich selbst entscheiden.“ Zehn religionspädagogische Anmerkungen zur Suche nach religiöser Wahrheit und zum Toleranzgebot
Die Kontroverse befremdet nicht nur heutige Leser, sie war auch schon damals aus der Zeit gefallen.
Lavater hatte offenbar zentrale Gedanken der Philosophie der Aufklärung nicht verstanden oder lehnte sie ab. Die Idee der Toleranz, die Mendelssohn zusammen mit Lessing entwickelt hatte, war wie die Religionen selbst in einer göttlichen Offenbarung begründet, die aber oberhalb von deren Wahrheiten angesiedelt ist.
Der Fairness halber muss noch ergänzt werden, dass sich Lavater Jahre später Verdienste erwarb, als das französischen Revolutionsheer in Zürich einfiel und Schrecken und Gewalt verbreitete. Er vermittelte zwischen den Aufständischen und der Regierung, verhinderte Todesurteile, wurde selbst deportiert und von einem Soldaten angeschossen. Er starb 59-jährig an den Folgen dieser Verletzung.
Bleibt noch die Frage, wie Lavaters Büste in Goethes Gartenhaus kommt
Über zehn Jahre nach seinem Besuch im Hause Mendelssohn in Berlin und vier Jahre nach seiner Veröffentlichung der Beweise für das Christentum war der Züricher Pfarrer im Juni 1774 zu einer Reise nach Deutschland aufgebrochen. In Bad Ems wollte er eine Kur antreten, um sich um seine angeschlagene Gesundheit zu kümmern. Bei die