Arbeitszeit-Erfassung für Lehrkräfte kommt: Warum das Ende des Deputatsmodells unausweichlich ist – und was das für Schulen bedeutet
BERLIN. Das Bundesarbeitsministerium hat sich öffentlich festgelegt: Lehrkräfte haben Anspruch auf Arbeitszeiterfassung. Damit steht das über 100 Jahre alte Deputatsmodell im deutschen Schuldienst vor dem Aus. Eine vom früheren Berliner Bildungsstaatsekretär Mark Rackles (SPD) erarbeitete Expertise zeigt, wie tiefgreifend die Umstellung ausfallen müsste – mit Folgen für Kultusministerien, Verwaltungen, Schulleitungen und Lehrkräfte.
Im Anflug. Illustration: Shutterstock
Das Bundesarbeitsministerium hat die Richtung vorgegeben: Lehrkräfte haben Anspruch auf Arbeitszeiterfassung – „Das ‚Ob‘ der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung ist also bereits geklärt“, so heißt es in einem Brief an den SPD-Politiker ehemaligen Berliner Bildungsstaatssekretär Mark Rackles, den dieser auf LinkedIn veröffentlicht hat (News4teachers berichtete). Es geht also nur noch um das „Wie“.
Nun stellt sich die Frage: Wie lässt sich dieses „Wie“ in der schulischen Realität umsetzen? Antworten gibt eine Expertise von Mark Rackles, der mittlerweile als Strategieberater und Publizist tätig ist, die er vor zwei Jahren im Auftrag der Telekom Stiftung erstellt hat. Seine Analyse entwirft ein Modell, das weit über reine Zeiterfassung hinausgeht: Es skizziert einen kompletten Umbau des über 100 Jahre alten Deputatsmodells.
Für Kultusminister: Ein Strukturproblem von Grund auf lösen
Rackles beschreibt die Ausgangslage drastisch: „Das seit über 100 Jahren im Kern unverändert geltende Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte weist erhebliche Mängel auf. Es fördert eine chronische Überlastung der Beschäftigten, es weist eine geringe Ressourceneffizienz auf und fast keine Adaptionsfähigkeit an neue Entwicklungen“.
Für die Kultusministerinnen und Kultusminister bedeutet das: Ein bloßes „Andocken“ der Arbeitszeiterfassung an das Deputatsmodell wird nicht reichen. Denn dieses Modell stehe, so Rackles, ‚unter einem massiven Veränderungs- und Handlungsdruck‘ – Anpassungen seien daher unvermeidlich. Der größte Druck gehe dabei von arbeitsgerichtlichen Vorgaben aus: Ohne Zeiterfassung verstießen die Länder gegen Arbeitsschutzrecht.
Die Folge: Die Länder müssen mehr tun, als ein technisches Zeiterfassungs-Tool einzuführen. Sie stehen vor der Aufgabe, das Deputatsmodell insgesamt zu ersetzen – durch eine Jahresarbeitszeit, in der alle Tätigkeiten der Lehrkräfte erfasst und mit Zeitbudgets versehen werden.
Für Schulverwaltungen: Globale Budgets und differenzierte Zuweisungen
Rackles Expertise schlägt ein neues Steuerungsinstrument vor: Die Behörden sollen nicht mehr nur Deputatsstunden zuteilen, sondern die gesamte Jahresarbeitszeit. „International und auch in Deutschland (Hamburger Modell) haben sich Modelle etabliert, die auf die Jahresarbeitszeit abstellen und diese – nach Abzug der Ferien und Wochenenden – in Wochenstunden je Unterrichtswoche umrechnen.“
Das bedeutet: Schulverwaltungen müssten die Gesamtarbeitszeit künftig differenzierter berechnen – je nach Fach und Schulstufe. Denn eine Unterrichtsstunde erzeugt nicht überall denselben Vor- und Nachbereitungsaufwand. Internationale und deutsche Modelle zeigen, wie das in der Praxis aussehen kann: „In Österreich wird bei den Landeslehrkräften mit einem Verhältnisfaktor 5:6 (0,83) gerechnet, in Hamburg wird als Basisfaktor 1,35 angesetzt … in einem neuen Arbeitszeitmodell sollten die Faktoren einfacher ausgestaltet sein und sich (gegebenenfalls linear) mit den Schulstufen erhöhen“ (Studie, S. 48). Mit anderen Worten: Ein Deutschlehrer in der Oberstufe bekäme mehr Zeit pro Stunde angerechnet als ein Sportlehrer in der Unterstufe – aber ohne komplizierte Tabellen, sondern mit wenigen, klaren Rechenfaktoren.
Damit verbunden wäre eine grundlegende Änderung: Die Behörden würden den Gesamtarbeitszeitbedarf einer Schule als ‚globales Budget‘ an die Einrichtung übertragen – statt wie bisher nur Deputatsstunden zuzuteilen. „Dieser schulische Gesamtbedarf wird als globale Stundenzuweisung an die Schule übertragen und entspricht einer spezifischen Zahl an Lehrkräften, die alle mit ihrer Wochenarbeitszeit von zum Beispiel 46,5 Zeitstunden angesetzt werden“.
Für die Verwaltung hieße das: mehr Transparenz und Vergleichbarkeit, aber auch ein höherer Planungsaufwand – und mittelfristig wohl zusätzliche Einstellungen, um unbezahlte Mehrarbeit abzubauen.
Für Schulleitungen: Stärkung durch neue Funktionsstellen
Ein zentrales Element des Rackles-Modells ist die Rolle der Schulleitung. Sie soll nicht nur pädagogische Verantwortung tragen, sondern auch das Arbeitszeitmanagement steuern. „Die konkrete Beauftragung der einzelnen Lehrkraft mit Tätigkeit und Zeit erfolgt – wie in Dänemark – im Gespräch mit der Lehrkraft durch die Schulleitung“.
Damit das funktioniert, müsse die Leitung gestärkt werden: „Da Schulleitungen selbst zu den zeitlich am stärksten beanspruchten Personengruppen im Schulsystem gehören, bedarf es … einer neuen Funktionsstelle innerhalb der Schulleitung (oder einer völligen Freistellung der Schulleitung vom Unterricht wie in Dänemark)“. Rackles schlägt die Einrichtung einer neuen Leitungsfunktion vor, vergleichbar mit einem „Personalvorstand“, der für Zeitmanagement und Personalfragen zuständig ist – ohne zwingend pädagogische Ausbildung. Das würde eine klare Rollenaufteilung zwischen pädagogischer Leitung und administrativer Steuerung schaffen.
Für Lehrkräfte: Transparenz, Entlastung – aber auch Kontrolle
Für die Lehrkräfte selbst wäre die Arbeitszeiterfassung ein zweischneidiges Instrument. Einerseits bringt sie Transparenz und Rechtssicherheit: Überstunden würden sichtbar, unbezahlte Mehrarbeit ließe sich nicht länger stillschweigend erwarten, und der Gesundheitsschutz erhielte endlich ein wirksames Fundament. Rackles betont: „Wenn weder der Arbeitgeber die konkreten Wochenarbeitszeiten seiner Beschäftigten kennt noch der Arbeitnehmer seine zeitliche Belastungssituation formal im Einzelfall nachweisen kann, dann laufen Arbeitsschutzbestimmungen … ins Leere“. Andererseits bedeutet sie aber auch zusätzlichen Aufwand – jede Stunde muss dokumentiert werden. Zudem könnte die Zeiterfassung in der Praxis als Kontrollmittel empfunden werden.
Das neue Modell sieht Tätigkeitscluster vor: „Unterricht 40 Prozent, unterrichtsnahe Tätigkeiten 35 Prozent, professionelle Kompetenz 8 Prozent und allgemeine Aufgaben 17 Prozent“. Damit würde endlich sichtbar, wie viel Zeit tatsächlich in Korrekturen, Elternarbeit oder Weiterbildung fließt. Allerdings betont Rackles auch: „Dieses neue Zuweisungsmodell (…) funktioniert jedoch nur unter der Bedingung, dass die realen Ist-Arbeitszeiten tatsächlich erfasst werden, damit (…) ein Nachweis des Ressourcenverbrauchs (…) erfolgen kann.“ Für Lehrkräfte bedeutet das: Sie müssten ihre Arbeitszeit dokumentieren – ob digital oder analog, das bleibt offen.
Fazit: Ein historischer Bruch
„Ermittlungen abgeschlossen – Zeit zum Handeln!“ lautet das Fazit der Studie. Mit der Klarstellung des Bundesarbeitsministeriums ist klar: Ein „Weiter so“ beim Deputatsmodell ist rechtlich nicht mehr haltbar. Die Länder stehen vor einer Grundsatzentscheidung: Entweder sie versuchen, mit Minimalmaßnahmen die Vorgaben zu erfüllen – oder sie nutzen die Chance für eine umfassende Modernisierung.
Die Rackles-Studie liefert dafür einen klaren Fahrplan: Jahresarbeitszeit statt Deputat, Globalbudgets statt starrer Stundenzuweisung, starke Schulleitungen und Transparenz für Lehrkräfte. Ob die Kultusministerien tatsächlich den Schritt zu einem neuen Arbeitszeitmodell gehen, ist offen – der Handlungsdruck aber größer denn je. Klar ist: Arbeitszeiterfassung wird Schule verändern. Für alle Beteiligten. News4teachers
Hier geht es zu der vollständigen Expertise.
Die Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte wird kommen – und Schule revolutionieren
Der Beitrag Arbeitszeit-Erfassung für Lehrkräfte kommt: Warum das Ende des Deputatsmodells unausweichlich ist – und was das für Schulen bedeutet erschien zuerst auf News4teachers.
Schule
via News4teachers https://www.news4teachers.de/
August 17, 2025 at 11:48AM