Rechtsruck in der Schule: „Zecke? Nehm ich als Kompliment“
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Aus Lauchhammer Jette Poensgen (Text) und Sven Döring (Fotos)
Lauchhammer liegt zwar nicht am Ende der Welt, aber gefühlt kann man es von hier aus schon fast sehen. Besonders bei klarem Wetter. Genau hier lebe ich. In einer Stadt im Süden Brandenburgs, die irgendwo zwischen Vergangenheit und Stillstand steht. Wo vor einer Wahl die AfD-Plakate an den Straßenlaternen unberührt bleiben, während die Aufsteller anderer Parteien schon nach einer Nacht beschmiert, zerrissen oder ganz verschwunden sind. Wo bei Anti-Nazi-Demos nur eine Handvoll Leute auftauchen – und der Bürgermeister jedes Mal fehlt. Wo viele alte Häuser leer stehen oder halb zerfallen sind und keiner etwas daran ändert. Wo es ganz besonders still ist und der letzte Bus schon um 19.19 Uhr abfährt, und zwar gestern. Wo es sowieso kaum Orte gibt, an denen man sich als Jugendliche*r gerne aufhalten will.
Hier wachse ich seit 15 Jahren auf. Mit Geschichten über „die guten alten Zeiten“, die irgendwo zwischen Kohleabbau aus gigantischen Löchern und großen, die Luft verpestenden Werken für Bagger, Briketts und Badewannenguss spielen. Es riecht nach Bratwurst, Braunkohle und leider auch nach braunen Parolen. In vielen Gesprächen wird die DDR beschönigt, oft auch die NS-Zeit verharmlost. „Früher war nicht alles schlecht“ – dieser Satz fällt häufiger als „Guten Morgen“. Und manchmal folgt ihm ein „Man konnte sich wenigstens noch sicher fühlen“. Was die Leute selten sagen: für wen das galt und für wen nicht.
Letztes Jahr schrieb ein*e Mitschüler*in jemand anderem „aus Spaß“ eine KZ-Nummer auf den Arm. Die Reaktion? Ein müdes Stirnrunzeln, ein halbherziges „Das gehört sich nicht“. Keine wirkliche Auseinandersetzung. Immerhin mussten sie es abwaschen. Solche Momente brennen sich ein. Nicht, weil sie besonders laut sind, sondern weil sie so still hingenommen werden. Als sei es völlig normal, dass Jugendliche ihr Zimmer mit abgerissenen AfD-Plakaten und Reichsflaggen dekorieren. Ironisch gemeint, natürlich. Als sei es ein pubertärer Gag, wenn mehrere Personen gleichzeitig das „White Power“-Handsymbol in die Kamera zeigen. „War doch nur’n Scherz, chill doch mal.“
Selbst Stromkästen werden mittlerweile mit den Farben der Reichsflagge angesprüht: Schwarz-Weiß-Rot. So als ob Nationalismus die neue urban street art wäre. Und wenn eine AfD-Politikerin unangekündigt das Schulgebäude betritt und der Schulleiter sie abweist, machen Mitschüler*innen trotzdem Fotos und posten Gruppenbilder mit ihr. Nicht weil sie inhaltlich etwas zu sagen hatte, sondern einfach, weil es offenbar „cool“ ist, sich mit ihr zu zeigen.
Als ich nach Corona auf die weiterführende Schule wechselte, hatte ich gerade erst damit begonnen, mich richtig für Politik und Klimaschutz zu interessieren. Ich verstand langsam, wie wichtig gesellschaftliches Engagement ist und wie viel noch schiefläuft. Ich fing an, Flyer für Fridays-for-Future-Demos zu verteilen, und hielt im Unterricht Vorträge über den Klimawandel. Die Reaktionen? Komische Blicke, spöttische Kommentare.
Das hat mich damals sehr verunsichert. Ich hatte noch nicht die Sicherheit, mit Ablehnung umzugehen. Also habe ich angefangen, vorsichtiger zu sein mit dem, was ich sage – und vor wem, oder meine Meinung für mich zu behalten. Nicht, weil mir die Themen egal waren, sondern aus Selbstschutz. Weil ich Angst hatte, ganz allein dazustehen. Weil ich nicht ständig der „Problemfall“ sein wollte. Denn wer keine Deutschlandflagge oder einen Adler im Instagramprofil hat und nicht die Sylt-Version von „L’amour toujours“ auf Klassenfahrt mitgrölt, fällt mittlerweile auf.
Mein Safe Space war und ist meine Familie. Bei uns wurde schon immer offen über Politik gesprochen. Seit ich klein bin, haben mir meine Eltern erklärt, wie unsere Gesellschaft funktioniert, warum Demokratie wichtig ist und warum man nicht nur an sich selbst denken sollte, sondern andere mitdenken muss. Sie haben mir geholfen, eine klare Haltung zu entwickeln und gegen Widerstände an ihr festzuhalten.
Lange dachte ich, das sei überall so. Dass es normal ist, zu Hause über Politik zu sprechen, Fragen zu stellen und sich mit Ungerechtigkeit auseinanderzusetzen. Doch je älter ich wurde, desto öfter merkte ich, dass das, was für mich selbstverständlich ist, für viele andere hier völlig fremd erscheint. Also fing ich an, mich mit Jugendlichen aus anderen Regionen Deutschlands auszutauschen: über Social Media, bei Jugendveranstaltungen oder auf politischen Treffen.
Ich hörte von Schulen, an denen Fridays-for-Future-Aktionen selbstverständlich unterstützt werden. Wo queere Schüler*innen offen über ihre Identität sprechen können und rechte Parolen nicht als „Jugendstreich“ abgetan, sondern konsequent thematisiert werden. Mir wurde klar, dass ich mit meiner Haltung dort oft zur Mehrheit gehören würde, nicht zur Ausnahme. Und dass sich der tiefe Osten nicht nur geografisch, sondern auch gesellschaftlich manchmal wie ein anderer Kosmos anfühlt.
Das bestärkte mich – und mit der Zeit wurde aus Angst Trotz. Und weil offen gegen Nazis zu sein hier schon fast als radikale Position gilt, falle ich auf. Ich falle auf, weil ich keine rechten Parolen durch den Schulflur rufe und meine Freund*innen nicht mit „Heil Hitler“ begrüße. Und ich falle auf, weil ich mich mittlerweile traue, Dinge auszusprechen: zum Beispiel, dass jeder, der gegen Antifaschismus ist, ein Faschist sein muss. Ich sage, dass jede*r lieben darf, wen sie oder er will. Dass der Planet wichtiger ist als der nächste SUV und Demokratie mehr, als alle vier Jahre ein Kreuzchen zu setzen.
Für manche bin ich damit offenbar die persönliche Apokalypse – was Kommentare wie „Wärst du nicht links, wärst du eigentlich ganz okay“ zeigen. Einmal wurde mir sogar Gewalt angedroht, mit dem Zusatz, dass ich nur durch mein Geschlecht davor verschont bliebe.
In der Schule schrieb eine*r jemand anderem „aus Spaß“ eine KZ-Nummer auf den Arm
Wenn im Klassenchat ein rassistischer Witz gemacht wird, außer mir niemand widerspricht und meine Mitschüler*innen sich daraufhin von mir distanzieren, dann kostet mich das Kraft. Aber ich habe für mich entschieden, dass Schweigen keine Option mehr ist. Dass ich mich nicht länger klein mache, nur weil die anderen lauter grölen. Ich habe angefangen, die Bezeichnung „links-grün-versiffte Zecke“ nicht mehr als Beleidigung zu empfinden, sondern sehe sie als unfreiwilliges Kompliment. Als Auszeichnung dafür, dass ich mich offensichtlich besser mit der Welt auskenne als andere in meinem Umfeld.
Oft habe ich das Gefühl, dass „Rechtssein“ bei vielen keine bewusste Überzeugung ist, sondern aus der Familie übernommen wurde. Wie ein Dialekt oder ein Rezept. Es wird einfach mitgegeben: über Gespräche am Küchentisch, über bestimmte Witze, über das, was man sagt und was man eben nicht sagt. Die Sprache, die Denkweise, das sitzt tief. Manchmal so tief, dass es den Betreffenden nicht mal auffällt. Und ja, ich glaube, es ist auch ein Trend. Einer, der besonders unter Jugendlichen greift, weil er Zugehörigkeit verspricht. Rechte Parolen als Rebellion, Reichsflaggen als Stilmittel, Provokation als Gruppencode.
Dass es in so einem Umfeld immer auch Mitläufer*innen gibt, kann ich manchmal sogar verstehen. Ich kenne ja selbst die Angst davor, aufzufallen. Die Sorge, ausgeschlossen zu werden, weil man nicht mitschwimmt. Gerade in einer Umgebung, in der rechtes Gedankengut als „normal“ gilt, braucht es Mut, sich abzugrenzen. Und nicht jede*r hat den Rückhalt, den ich durch meine Familie habe. Aber mein Verständnis heißt nicht meine Zustimmung. Wer mitläuft, macht sich mitverantwortlich, finde ich.
Doch auch wenn es bis zu dieser Stelle vielleicht so wirken könnte: In Lauchhammer ist lange nicht alles düster. Es gibt sie, die hellen Momente. Zum Beispiel, wenn an einem Sommerabend jemand mit drei Promille auf seiner Simson am See auftaucht, in den Klamotten baden geht und dabei irgendwie trotzdem eine gewisse Eleganz ausstrahlt. Oder wenn man auf einem Feldweg steht, umgeben von Weite, und der Himmel in Farben leuchtet, die kein Instagram-Filter besser aussehen lassen könnte.
Die Leute hier sind oft direkt, manchmal laut und nicht immer freundlich. Sie sind ehrlich. Dafür ist ihre Grobheit mitunter schwer zu ertragen, aber sie ist selten böse gemeint. Gerade in dieser Widersprüchlichkeit liegt eine gewisse Wärme. Eine, die nicht sofort auffällt, aber da ist, wenn man länger hinschaut. Und es ändert sich auch was. Ganz langsam, fast schon heimlich. So wie wenn der Schnee taut und man plötzlich merkt: Ach, da war ja ein Garten drunter.
Orte für Jugendliche gibt es in Lauchhammer kaum. Auch das Kulturhaus ist seit Jahrzehnten geschlossen
Ich habe den Eindruck, dass sich gerade immer mehr Jugendliche um mich herum gegen rechts positionieren. Vielleicht, weil es zunehmend Räume gibt, in denen man sich sicher fühlen kann. Das können kleinere Freundeskreise sein oder bestimmte Tiktok-Communities, Insta-Seiten oder Discord-Server, wo man sich über Politik austauschen kann. Auch einzelne Lehrer*innen und Jugendgruppen schaffen manchmal so einen geschützten Raum, in dem man nicht sofort bewertet, sondern einfach erst mal gehört wird. Alleine das macht schon einen Unterschied.
Vor meiner letzten Geburtstagsfeier habe ich ganz klar gesagt, dass bei mir niemand willkommen ist, der rassistische, homophobe oder verschwörungsideologische Ansichten vertritt. Die Reaktionen auf diese Ansage waren zwar eher genervt-ironisch, aber niemand hat diskutiert. Am Tag der Feier kamen meine Freund*innen zur Tür rein, schauten meine Eltern zu Begrüßung an und betonten gleich: „Keine Sorge, wir sind nicht rechts.“ Als wäre es das neue „Hallo, schön Sie kennenzulernen“.
Neonazis setzen inzwischen keinen Fuß mehr auf unser Grundstück, weil sie wissen, dass sie bei uns nicht erwünscht sind. Vor ein paar Jahren kam es durch