Zu wenig Schüler: Griechenland schließt hunderte Schulen
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Athen taz | Wie jedes Jahr läuten die Schulglocken in ganz Griechenland am 11. September zum Auftakt des neuen Schuljahres. Die Schüler versammeln sich Punkt 8.15 Uhr auf dem Schulhof zur alljährlichen Weihe der Schule und der Schüler. So kann das neue Schuljahr nach den drei Monate währenden Ferien beginnen. Von diesem Moment an läuten die Schulglocken werktäglich, jeden Morgen erfolgt das Morgengebet, stets um 8.15 Uhr.
Doch das ist nicht mehr überall so. In 714 der landesweit bisher 13.478 Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe bleiben die Schulglocken diesmal stumm. Der Schulbetrieb wird komplett eingestellt. Das entspricht einem Anteil von genau 5,3 Prozent aller Schulen. Der Grund dafür ist so simpel wie erschreckend: Die Schulen haben nicht mehr genügend Schüler.
Zuerst berichtete die Athener Tageszeitung Kathimerini darüber. Konkret betrifft es 355 Vorschulen für Kinder im Alter bis sechs Jahren, 319 Grundschulen (1. bis 6. Klasse), 24 Gymnasien (7. bis 9. Klasse), 9 Lyzeen (10. bis 12. Klasse), 6 Sonderberufsschulen sowie 1 Berufslyzeum. Dies zeigt, dass vor allem nicht mehr genügend junge Schüler im Alter von bis zu zwölf Jahren vorhanden sind, um den hiesigen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten.
Von den 714 nun eingestellten Schulen entfallen in Summe 674 auf Vorschulen und Grundschulen. Dies entspricht knapp 95 Prozent aller dichtgemachten Schulen.
Vor allem der Nordosten betroffen
Ferner lohnt sich ein Blick auf die Geografie: Betroffen vom Schulsterben sind zwar Schulen in allen 13 Verwaltungsregionen in Griechenland. Doch besonders die Region Ostmakedonien und Thrakien im Nordosten Griechenlands an der Festlandsgrenze zur Türkei, in der nun 154 Schulen der Primar- und Sekundarstufe geschlossen werden, ferner die nordgriechische Region Zentralmakedonien mit ihrer Metropole Thessaloniki mit 150 geschlossenen Schulen sowie die zentralgriechische Region Thessalien mit 81 Schulschließungen ragen heraus.
Allein dieses regionale Trio macht mit zusammen 385 Schulschließungen knapp 55 Prozent aller diesjährigen Schulschließungen in ganz Hellas aus. Was sie gemein haben: Es handelt sich um unisono agrarisch geprägte Landesteile im touristisch unterentwickelten Herzen und Norden Griechenlands.
Wer indes glaubt, vom hellenischen Schulsterben bleibt der Großraum Athen verschont, der irrt gewaltig. In Attika mit seinen 66 Gemeinden und ihren rund 4 Millionen ständigen Einwohnern werden zum diesjährigen Schulstart 77 Schulen geschlossen. Davon entfallen 40 auf Vorschulen und weitere 23 sind Grundschulen. Ferner leiden entlegene Bergregionen unter den Schulschließungen.
Dazu zählen Epirus im Nordwesten Griechenlands an der Grenze zu Albanien mit 43 Schulschließungen sowie weite Teile der Halbinsel Peloponnes mit ihren 44 Schulschließungen vor dem Start ins neue Schuljahr. Im Athener Bildungsministerium schrillen jedenfalls sämtliche Alarmglocken. Hellas befinde sich wegen der akuten demografischen Entwicklung „in einer Situation, die einem Armageddon nahe kommt“, zitiert Kathimerini Mitarbeiter.
150.000 Kinder weniger
Das ist keine Übertreibung. Seit 2018, also in nur 7 Jahren, ist die Schülerzahl alleine in den hiesigen Grundschulen (1. bis 6. Klasse) rasant zurückgegangen um 111.388 Kinder. Besuchten im Herbst 2018 noch 599.406 Kinder die Grundschule, werden es heuer lediglich 488.018 Kinder sein. Insgesamt werden in der Primar- und Sekundarstufe im Schuljahr 2025/2026 etwa 1.210.000 Schüler unterrichtet werden. 7 Jahre zuvor, im Schuljahr 2018/2019, waren es noch 1.363.912 Schüler. Das entspricht einem Rückgang von mehr als 150.000 Schülern oder einem Minus von gut 11 Prozent.
Ebenso betroffen vom Schülerschwund sind die Vorschulen. Im Schuljahr 2018/19 besuchten noch 139.474 Schüler in Griechenland die Vorschule. Dagegen werden es im beginnenden Schuljahr 2025/26 noch 136.921 Schüler sein. Und dies, obgleich die Vorschule aufgrund der Einführung einer zweijährigen statt wie bisher einjährigen Vorschulerziehung zusätzlich von Vierjährigen statt bisher nur Fünfjährigen besucht wird.
Unterdessen schraubt sich die Abwärtsspirale in Sachen demographiebedingter Schulschließungen in Griechenland immer schneller hinab. Im Jahr 2019 mussten 615 Bildungseinrichtungen der Primar- und Sekundarstufe ihren Betrieb einstellen. Es folgten 636 Schulschließungen im Jahr 2020, 635 im Jahr 2021, 624 (2022), 627 (2023), 696 (2024) und besagte 714 vor diesem Schuljahr.
Wurde im Schuljahr 2018/2019 der Betrieb von 247 Grundschulen eingestellt, sind es inzwischen 319 Grundschulen. Schloss das Bildungsministerium 2018/2019 noch 312 Vorschulen, werden es vor diesem Schuljahr besagte 355 Einheiten sein.
Doch wann wird eigentlich eine Schule in Griechenland geschlossen? Das passiert dann, wenn sich nicht mindestens 15 Schüler pro Klasse eingeschrieben haben. Gleichwohl sind Ausnahmen vorgesehen. Das gilt für kleine Inseln oder entlegene Bergdörfer. Ein Beispiel dafür ist Sikinos, eine Kleininsel der Kykladen-Inselgruppe mit 250 ständigen Einwohnern.
Für dieses Schuljahr sind in der Vorschule 2 Kinder, in der Grundschule 3 Kinder, im Gymnasium 4 Schüler und im Lyzeum 5 Schüler eingeschrieben
Lehrerin Konstantina Christodoulou
„Für dieses Schuljahr sind in der Vorschule 2 Kinder, in der Grundschule 3 Kinder, im Gymnasium 4 Schüler und im Lyzeum 5 Schüler eingeschrieben“, offenbart die Lehrerin Konstantina Christodoulou am Montag – drei Tage vor dem diesjährigen Schulstart – auf Anfrage der taz. Die zweite Klasse des Gymnasiums und die zweite Klasse des Lyzeums haben keine Schüler, fügt Christodoulou hinzu. Dennoch bleiben alle Schulen auf Sikinos auf.
Kommt es zu einer Schulschließung, wird der Schulbetrieb hierzulande für 3 Jahre ausgesetzt. Falls in diesem Zeitraum die erforderliche Mindestanzahl an Schülern nicht erreicht wird, wird die Schule aus dem offiziellen griechischen Schulverzeichnis endgültig gestrichen.
„Es gibt Fälle, in denen eine Schule wieder in Betrieb genommen wurde. Leider ist die endgültige Schließung aber die Regel“, sagt dazu Christos Tsiamalos, zuständiger Beamte im Athener Bildungsministerium.
Ausnahme: „Minderheitenschulen“
Doch es gibt eine Ausnahme: sogenannte „Minderheitenschulen“. Das sind Bildungseinrichtungen in Regionen, wo neben den mehrheitlich christlich-orthodoxen Griechen noch muslimische Griechen leben. Sie leben maßgeblich in Dörfern der Region Ostmakedonien und Thrakien. Diese Schulen werden nur vorübergehend geschlossen.
Fest steht: Die Schließung einer Schule stellt das Leben der Schüler auf den Kopf. Es gibt Schüler, die täglich bis zu 80 Kilometer zurücklegen müssen, um sich jeden Morgen in ihre neue Schule zu begeben. Wer das seinem Kind nicht zumuten möchte, dem bleibt keine andere Wahl, als an den Standort der neuen Schule des Kindes umzuziehen.
Privatschulen sind keine Alternative. Diese gibt es ohnehin nur in Großstädten, zudem können sich die meisten Griechen die hohen Schulgebühren nicht leisten. Nur etwa 5 Prozent der Schüler in Griechenland gehen auf eine Privatschule.
Der demografische Abwärtstrend sei erschreckend, sagt Christos Tsiamalos. „Ich kann mich daran erinnern, dass es 2010 in einer Grundschule in Zentralgriechenland 10 Klassen mit in Summe 170 Schülern gab. 2023 hatte die Schule nur noch 7 Klassen mit 120 Schülern. Dieses Schuljahr wird die Schule lediglich 6 Klassen mit 100 Schülern haben“, legt der Beamte den Finger in die Wunde.
Hoher Aufwand, unzureichende Ausbildung
Ist der Kipppunkt erreicht, lohnt sich der Schulbetrieb für den griechischen Staat nicht mehr. Für Alexandra Androussou vom Institut für Vorschulerziehung und -pädagogik an der Uni Athen ist die Sache klar: „Die Fortsetzung des Schulbetriebs mit wenigen Schülern erfordert enorme Investitionen vom Staat. Lehrkräfte, die an Ein- oder Zweiklassen-Schulen mit Schülern unterschiedlichen Alters zu unterrichten haben, müssen speziell ausgebildet werden, um zu wissen, wie sie mit jedem einzelnen Schüler individuell arbeiten können.“
Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Hatte Griechenland im Jahr 2005 noch 11,22 Millionen Einwohner, waren es 2021 genau 10.482.487, wie das griechische Statistikamt Elstat nach der jüngsten Volkszählung bekanntgab. Das bedeutet einen Rückgang um rund 740.000 Menschen oder 7 Prozent – binnen 16 Jahren.
Nur 2 von landesweit 13 griechischen Regionen konnten in den letzten 10 Jahren einen Anstieg ihrer Bevölkerung verzeichnen: Kreta sowie die Region Süd-Ägäis – den dort boomenden Tourismuszentren Rhodos, Kos, Mykonos und Santorin sei Dank.
Selbst im Großraum Athen, der mit Abstand bevölkerungsreichsten Region in Griechenland, stellte Elstat von 2011 bis 2021 einen Rückgang um 0,4 Prozent auf nunmehr 3.814.064 Bewohner fest. Auch Hellas’ zweite Metropole Thessaloniki schrumpft. Mit 1,1 Millionen Bewohnern lebten 2021 1,5 Prozent weniger Menschen in der Hafenstadt als 10 Jahre zuvor.
Hohe Sterbe-, niedrige Geburtenrate
Am Schlimmsten trifft der demografische Verfall die Region West-Makedonien mit einem Minus von 10,3 Prozent im Zeitraum von 2011 bis 2021. Es folgen Ost-Makedonien und Thrakien mit minus 7,6 Prozent, Zentralgriechenland mit minus 7,1 Prozent sowie die Halbinsel Peloponnes mit minus 6,6 Prozent. Wie sehr die Bevölkerung in Griechenland schrumpft, berichtete die taz im November 2023 aus dem nordgriechischen Dorf Nea Zichni.
Elstat zufolge belief sich die Zahl der Geburten in ganz Griechenland im Jahr 2024 auf nur noch 69.675. So wenige Kinder kamen hierzulande noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen in Athen im Jahr 1932 zur Welt. Unterm Strich starben 2024 58.584 mehr Menschen als zur Welt kamen. Anders gesagt: Es starben annähernd doppelt so viele Menschen in Griechenland wie geboren wurden.
Zum Vergleich: 1932 betrug die Zahl der Geburten noch 185.523. Zugleich starben 1932 nur 117.593 Bewohner Griechenlands. Folgli