Pläne der Bundesregierung: Bildungsforscher warnen davor, förderbedürftige Kita-Kinder in besonderen Vorschulklassen zu separieren
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BERLIN. Frühstart mit Risiko? Die Bundesregierung plant, den Bildungsweg künftig bereits im Kita-Alter zu sortieren: Alle Vierjährigen sollen einem verpflichtenden Sprach- und Entwicklungsscreening unterzogen werden – mit potenziellen Folgen wie Vorschulklassen für Kinder mit Förderbedarf. Was auf den ersten Blick nach gezielter Frühförderung aussieht, ruft in der Wissenschaft massive Bedenken hervor. Eine neue Stellungnahme von Bildungsforscher:innen warnt vor den Gefahren früher Selektion – und zeigt auf, was wirklich helfen könnte.
Erst scannen, dann aussondern? Illustration: Shutterstock
Dass Karin Prien die Kitas in den Blick nehmen will, um die Schülerleistungen in Deutschland zu verbessern, machte die heutige Bundesbildungsministerin – damals noch als Schleswig-Holsteinische Bildungsministerin – im Januar in einem bildungspolitischen Papier für die Wübben Stiftung deutlich. Eine der wichtigsten kulturellen Veränderungen, die in diesem Land erforderlich wären, ist ein Umdenken in Bezug auf die Rolle der Kitas“, schrieb die CDU-Vize-Vorsitzende.
Sie betonte: „Kitas müssen in Deutschland endlich vom ersten Tag an als Bildungseinrichtungen anerkannt und auch tatsächlich genutzt werden. Die Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher ist keine Kinderbeaufsichtigung, sondern eine elementar wichtige pädagogische Begleitung in den ersten Lebensjahren. In der Kita werden Sprachdefizite schneller und einfacher behoben als in jedem anderen Lebensbereich. Kulturelle Integration und Hinführung zu Neugier und basalen Kompetenzen müssen als Vorbereitung auf die Schule in der Kita erfolgen. Im Sinne einer Priorisierung sollte ab sofort eine nationale Agenda für Kinder im Alter von 0 bis 10 Jahren im Mittelpunkt stehen – mit verbindlichen Bildungsplänen für dieses Alter und der Entwicklung eines gemeinsamen Bildungsverständnisses für Kita und Grundschule sowie einer erleichterten Kooperation der Hilfesysteme, einschließlich Datenübermittlung, die hier bildungskompensatorisch wirken sollen.“
Was das konkret meinte, lässt sich mittlerweile im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD (Punkt 4.1) nachlesen: „Für gutes Aufwachsen und Chancengerechtigkeit für alle Kinder in Deutschland werden wir die verpflichtende Teilnahme aller Vierjährigen an einer flächendeckenden, mit den Ländern vereinbarten Diagnostik des Sprach- und Entwicklungsstands einführen. Bei ermitteltem Förderbedarf erwarten wir von den Ländern geeignete, verpflichtende Fördermaßnahmen und -konzepte“, so heißt es in dem Grundlagendokument der Bundesregierung.
Doch daran regt sich jetzt Kritik: In einer umfassenden Stellungnahme warnen die Bildungswissenschaftler:innen Prof. Timm Albers und Dr. Seyran Bostancı, unterstützt von über 30 renommierten Professorinnen und Professoren, eindringlich vor der geplanten Sprachstandserhebung im Vorschulalter. Sie kritisieren, dass diese auf eine defizitorientierte Selektionsdiagnostik hinauslaufe – mit der Folge, dass Kinder aus benachteiligten Lebensverhältnissen weiter stigmatisiert und segregiert würden.
„Die angestrebte Diagnostik läuft Gefahr, bestehende Ungleichheiten nicht zu verringern, sondern zu verstärken“
Die Autor:innen monieren, dass der Ansatz des Koalitionsvertrags einer „Vorverlagerung schulischer Selektion“ gleichkomme – insbesondere, wenn Vorschulklassen als Konsequenz drohen. Bereits heute hätten Kinder mit Migrations- oder Fluchthintergrund sowie aus sozial benachteiligten Familien einen erschwerten Zugang zu früher Bildung. Statt diese Hürden zu beseitigen, berge das geplante flächendeckende Screening das Risiko, die Chancenungleichheit weiter zu verstärken. „Die angestrebte Diagnostik läuft Gefahr, bestehende Ungleichheiten nicht zu verringern, sondern zu verstärken, da sie mit einem weiteren Selektionsrisiko in der Biografie von Kindern verbunden ist“, so die Stellungnahme.
Statt individueller Tests empfehlen Albers und Bostancı, soziale Rahmenbedingungen als Grundlage für die Ressourcenverteilung heranzuziehen – etwa über Sozialraumindikatoren.
Bereits in der Vergangenheit eingeführte Sprachförderprogramme, vor allem additive Maßnahmen, hätten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Studien zeigten enttäuschende Ergebnisse in der Sprachentwicklung geförderter Kinder. Besonders kritisch bewerten die Autor:innen separierende Maßnahmen: „Vorschulklassen und Schulkindergärten tragen im ungünstigen Fall zur Verstärkung der Unterschiede in den Bildungsvoraussetzungen bei“, heißt es.
„Nur wenn alle Kinder frühzeitig Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung erhalten, können gerechte Startvoraussetzungen geschaffen werden“
Zudem verweisen sie auf eine diskriminierende Wirkung der aktuellen Sprachstandserhebungen, die meist einsprachig normiert seien und die Mehrsprachigkeit vieler Kinder nicht angemessen abbildeten. Stattdessen brauche es prozessorientierte Beobachtungsverfahren, die Sprache in authentischen Interaktionen erfassen.
Ein zentrales Argument der Forscher:innen: Der Zugang zur frühkindlichen Bildung sei für viele Familien mit Migrationshintergrund nach wie vor erschwert – etwa durch bürokratische Hürden, mangelnde Informationen oder institutionelle Diskriminierung. Statt an späterer Stelle zu selektieren, müsse früher Zugang zur Kita sichergestellt werden: „Nur wenn alle Kinder frühzeitig Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung erhalten, können gerechte Startvoraussetzungen geschaffen werden.“
Dabei liefern die Autor:innen auch konkrete Perspektiven für eine wirksame und inklusive Sprachbildung:
Alltagsintegrierte Sprachbildung stärken: Programme wie „Sprach-Kitas“ hätten gezeigt, dass sie bei guter Umsetzung positive Effekte auf die Sprachentwicklung haben.
Professionalisierung des Fachpersonals: Frühpädagog:innen müssten für den Umgang mit sprachlicher Vielfalt qualifiziert sein – auch im Hinblick auf Diagnostik und Mehrsprachigkeit.
Systemische Veränderungen statt Kindzentrierung: Nicht die Kinder müssten schulfähig werden, sondern Bildungseinrichtungen müssten kindfähig sein. Es brauche diversitätssensible und sprachlich anregende Umgebungen – idealerweise auch in der Familiensprache.
Stärkung dialogischer Methoden: Formate wie dialogisches Lesen oder Translanguaging seien nachweislich wirksam – insbesondere für Kinder mit wenig Kontakt zur Umgebungssprache Deutsch.
Die klare Botschaft der Stellungnahme: Standardisierte Sprachtests und Vorschulklassen seien der falsche Weg. Es brauche keine selektiven Sondermaßnahmen, sondern hochwertige, inklusive und empowernde frühkindliche Bildung für alle. Fazit der Autor:innen: „Eine gute Kita ist eine gute Kita für alle Kinder. Sie braucht keine separierenden Sondermaßnahmen, sondern gut ausgebildete Fachkräfte, vertrauensvolle Beziehungen zu Familien und ein Bildungssystem, das Vielfalt als Ressource begreift.“ News4teachers
Unterstützer
Diese Wissenschaftler:innen unterstützen die Stellungnahme:
Prof. Dr. Juliane Karakayalı, Evangelische Hochschule Berlin
Prof. Dr. Peter Cloos, Stiftung Universität Hildesheim
Dr. Till Julian Nesta Wörfel, Mercator Institut, Universität zu Köln
Prof. Dr. Katja Gramelt, Hochschule Düsseldorf
Prof. Dr. Nadine Madeira Firmino, Hochschule Bielefeld
Prof. Dr. Susanne Miller, Universität Bielefeld
Prof. Dr. Yvonne Decker-Ernst, IU Internationale Hochschule
Prof. Dr. Katharina Gerarts, IU Internationale Hochschule
Prof. Dr. Brigitte Kottmann, Universität Paderborn
Prof. Dr. Katrin Velten, Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Aysun Doğmuş, Technische Universität Berlin
Prof. Dr. Vassilis Tsianos, Fachhochschule Kiel
Prof. Dr. Tina Friedrich, Katholische Stiftungshochschule München
Prof. Dr. Sven Lindberg, Universität Paderborn
Prof. Dr. İnci Dirim, Universität Wien
Prof. Dr. Renate Zimmer, Universität Osnabrück
Vertr. Prof. Dr. Yasemin Uçan, Universität zu Köln
Prof. Dr. Claudia Hruska Alice Salomon, Hochschule Berlin
Dr. Reyhan Kuyumcu, Christian-Albrechts-Universität Kiel
Prof. Dr. Susanne Schwab, Universität Wien
Prof. Dr. Regine Schelle, Hochschule München
Prof. Dr. Petra Büker, Universität Paderborn
Prof. Dr. Natascha Naujok, Evangelische Hochschule Berlin
Prof. Dr. Bedia Akbaş, Fachhochschule Kiel
Prof. Dr. Rahel Dreyer, Alice Salomon Hochschule Berlin
Prof. Dr. Sarah Fürstenau, Universität Hamburg
Prof. Dr. Maisha-Maureen, Auma Humboldt-Universität Berlin
Prof. Dr. Hans Brügelmann, Universität Siegen
Prof. Dr. Mona Massumi, Fachhochschule Münster
Prof. Dr. Manfred Liebel, Technische Universität Berlin
Prof. Dr. Anne Piezunka, Hochschule für Soz. Arbeit und Pädagogik Berlin
Benedikt Wirth, DeZIM Berlin
Prof. Dr. Karin Kämpfe, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd
Prof. Dr. Emra Ilgün-Birhimeoğlu, Fachhochschule Dortmund
Prof. Dr. Nina Hogrebe, Technische Universität Dortmund
Dr. Kevin Niehaus, Universität Duisburg-Essen
CDU will verpflichtende Sprachförderung in Kitas (das hat allerdings einen Haken)
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July 24, 2025 at 06:39AM