Weniger wäre mehr: Warum Schule wieder mehr Freiräume braucht – und wie sie sich von unnötigem Ballast befreit
MÜNCHEN. „Das haben wir schon immer so gemacht“ – dieser Satz prägt viele Schulen. Doch genau diese Haltung sei Teil des Problems, sagt der Psychologe und ehemalige Lehrer Dr. Benedikt Wisniewski. In seinem Buch „Weniger macht Schule“, in dem er sich mit dem Thema De-Implementierung beschäftigt, zeigt er auf, wie durch das bewusste Streichen unwirksamer Praktiken mehr Raum für das wirklich Wichtige entsteht. Ein Interview über den Mut, weniger zu machen.
Über den Wolken. Illustration: Shutterstock
News4teachers: Sie haben ein Buch mit dem Titel „Weniger macht Schule“ veröffentlicht. Was steckt hinter diesem Titel?
Porträtbild von Benedikt Wisniewski, Benedikt Wisniewski, Schulpsychologe, Autor, Supervisor und Hoast des Podcasts “Psychologie fürs Klassenzimmer”. Foto: privat
Benedikt Wisniewski: Der Titel spielt auf ein „Weniger“ im Sinne von De-Implementierung an. Das ist erstmal ein sperriges Wort, ich weiß. Aber im Kern bedeutet De-Implementierung: bewusst Dinge wegzulassen oder zu reduzieren – und zwar solche Praktiken, die sich als ineffektiv oder sogar schädlich erwiesen haben. Es ist also ein Gegenentwurf zu der weit verbreiteten „Mehr-ist-besser“-Logik, die unser Schulsystem schon seit Jahrzehnten prägt. Die Grundidee ist: Schule wird nicht automatisch besser, wenn man immer noch mehr Maßnahmen, Konzepte oder Vorgaben hinzufügt. Stattdessen plädieren meine Co-Autorin Barbara Gottschling und ich in unserem Buch dafür, durch Reduktion wieder Freiräume für wirklich wirksame, wichtige pädagogische Arbeit zu schaffen. Etwas, was nicht zuletzt auch der Gesundheit der Lehrkräfte zugute käme. Ein zentraler Punkt, gerade in Zeiten des Lehrermangels.
News4teachers: Sie sagen also, wer Schule verbessern will, muss den Mut haben, loszulassen?
Wisniewski: Ja. Wir plädieren bewusst für ein Umdenken. Man könnte dieses Denken in einem kurzen Satz zusammenfassen: Besser weniger – aber weniger besser.
News4teachers: Der Begriff der De-Implementierung war für mich neu. Es ist kein Schlagwort, das die bildungspolitischen Debatten derzeit bestimmt. Ist es ein Begriff, den Sie entwickelt haben?
Wisniewski: In der Medizin gibt es den Begriff schon seit über zehn Jahren, aber im Bildungsbereich ist er tatsächlich recht neu. Eingeführt wurde er dort vor ein paar Jahren von Peter DeWitt und John Hattie. Noch ist er aber an manchen Stellen unbekannt, auch wenn das Thema gerade ziemlich an Fahrt aufnimmt.
News4teachers: Wie erkennt man denn, was man de-implementieren, also weglassen kann? Gibt es Beispiele oder Schritte, an denen sich Schulen orientieren können?
Wisniewski: Es gibt eine Ressource im Bildungsbereich, die eigentlich unerschöpflich ist und ständig wächst – im Gegensatz zur Ressourcenknappheit in allen anderen Bereichen: Und zwar das Wissen darüber, wie und warum bestimmte Praktiken wirken. Wir haben heute, im Jahr 2025, eine enorme Menge an wissenschaftlicher Evidenz zur Wirksamkeit verschiedenster Praktiken. Trotzdem wird im System Schule vieles gemacht, weil man es „immer schon so gemacht hat“ – nicht, weil es gute Gründe dafür gibt. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele, auch aus unserem Buch: Sprachenlehrkräfte korrigieren jedes Jahr mit einem Auwand von vielen Millionen Arbeitsstunden Übungsaufsätze, obwohl die Forschung zeigt, dass Schülerinnen und Schüler diese Korrekturen nicht als lernwirksames Feedback nutzen. Im Gegenteil: Korrekturen verhindern sogar Lernerfolge eher als sie zu befördern. Oder ein zweites Beispiel: Die Vorbereitung des Unterrichts. Jede Unterrichtsstunde wird nach wie vor durch jede Lehrkraft einzeln und neu vorbereitet – obwohl sich empirisch keinerlei Vorteile dieses Vorgehens zeigen lassen. Und so weiter und so weiter. Es gibt unzählige Beispiele.
News4teachers: „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist also ein Argument, das gerne genutzt wird. Gleichzeitig sehen sich Schulen ja mit immer neuen Aufgaben und Veränderungen konfrontiert.
Wisniewski: Ja, es gibt diese zwei Gegenpole: Auf der einen Seite „Das war schon immer so“ und auf der anderen Seite diese unsägliche „Schule neu denken“-Rhetorik. Beide Positionen bringen uns nicht weiter. Die eine beruft sich auf Tradition, die andere auf vermeintlich visionäre Schlagworte. Aber beide verhindern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist wirklich sinnvoll? Wofür gibt es gute Evidenz
News4teachers: Welchen Rat geben Sie also Schulen?
Wisniewski: Es gibt wie gesagt diesen riesigen Schatz an Forschung, auf den Schulpraktiker zurückgreifen können und der auch immer zugänglicher wird. Das ist die eine Möglichkeit. Gleichzeitig kann auch jede Schule selbst systematisch eigene Maßnahmen evaluieren. Das gibt es leider noch viel zu selten, aber es findet durchaus statt. Ich bin gerade mit einem Schulleiter im Gespräch, der systematisch evaluiert, ob sich der Tag der offenen Tür an seiner Schule wirklich lohnt. Er erhebt Daten: Wie viele Besucher melden ihre Kinder auf Grund der Veranstaltung später tatsächlich an? Wie empfinden die Gäste die Veranstaltung? Und was sagt das Kollegium zum Aufwand-Nutzen-Verhältnis? Auf dieser Basis kann er dann eine fundierte Entscheidung treffen – jenseits vom eigenen Bauchgefühl.
“Diese tief verwurzelten Vorstellungen und Strukturen geben natürlich Stabilität, aber sie führen gleichzeitig zu einer Reformträgheit.”
News4teachers: Sie würden also sagen, es ist sinnvoll, dass jede Schule ihren eigenen „Ballast“ identifiziert und nicht nur darauf schaut, welche Themen insgesamt für überflüssige Mehrarbeit im Schulsystem sorgen?
Wisniewski: Ich denke, beides ist wichtig. Es gibt natürlich Themen wie die Korrekturpraxis, die überall relevant sind und worüber jede Schule sich Gedanken machen kann. Aber daneben gibt es auch sehr spezifische Routinen, die nur in bestimmten Schulen oder Schulformen vorkommen. Ich denke, es lohnt sich, beides im Blick zu haben.
News4teachers: Wie viel Spielraum haben Schulen eigentlich dabei? Können sie einfach Dinge weglassen – oder sind ihnen da nicht schnell die Hände gebunden?
Wisniewski: Es gibt viele Dinge, die formal vorgeschrieben oder auch institutionell verankert sind. Aber wir zeigen in unserem Buch, dass auf der Mikro- und Meso-Ebene, also bei einzelnen Lehrkräften und auf der Ebene der Schulleitung, schon erhebliche Gestaltungsspielräume bestehen. Ich habe darüber in meinem Podcast auch mal mit John Hattie gesprochen. Er meinte, dass 90 Prozent der Tätigkeiten von Schulleiterinnen und Schulleitern sowie von Lehrkräften selbst auferlegt sind. Der Wert erscheint mir zwar sehr hoch, aber es stimmt definitiv, dass man sehr viel selbst in der Hand hat und auch verändern könnte. Unser Schulsystem ist ein System, das der einzelnen Lehrkraft ein hohes Maß an Autonomie zugesteht. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass sich die meisten Beschränkungen von Freiräumen in Bezug auf De-Implementierung nicht durch äußere Vorgaben und Vorschriften, sondern vielmehr aus inneren Widerständen und eingefahrenen Denkmustern ergeben.
News4teachers: Das müssen Sie erklären. Woran liegt es also, dass trotz vorhandener Freiräume das Weglassen und Verändern so schwierig ist?
Wisniewski: Diese Frage erfordert eine sehr komplexe Antwort. Ein hilfreiches Konzept zur Erklärung ist das der „Grammar of Schooling“ von Tyack und Tobin. Die „Grammar of Schooling“ beschreibt fest etablierte Routinen und Denkweisen, die im Prinzip wie eine Grammatik funktionieren und selten hinterfragt werden. Es sind einfach Regeln, an die man sich hält und Vorstellungen davon, wie Schule zu sein hat. Diese tief verwurzelten Vorstellungen und Strukturen geben natürlich Stabilität, aber sie führen gleichzeitig zu einer Reformträgheit.
Darüber hinaus gibt es aus psychologischer Sicht ganz verschiedene Mechanismen, die gerade Veränderungen etablierter Tätigkeiten sehr, sehr schwer machen. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: Es gibt die „Sunk-Cost-Fallacy“. Das ist eine Tendenz, an offensichtlich nicht zielführenden Praktiken festzuhalten, einfach nur deswegen, weil bereits viel Zeit, Energie oder Ressourcen investiert wurden. Ein anderes Beispiel ist der „Status-quo-Bias“, also die Neigung, den bestehenden Zustand gegenüber möglichen Veränderungen immer zu bevorzugen, weil er vertraut ist. Wer etwas abschafft, verlässt immer bekannte Pfade und das Verlassen bekannter Pfade geht mit Unsicherheiten und Angst einher. Es kann außerdem negative Emotionen auslösen, etwa Scham oder Schuldgefühle. Man fragt sich: Was denken die Kollegen?
News4teachers: Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wisniewski: Wenn ich mich beispielsweise dazu entscheide, meine Korrekturen zu reduzieren, hätten die meisten wahrscheinlich Angst vor negativen Kommentaren von Kolleginnen und Kollegen. Es entsteht die Sorge, dass man selbst weniger engagiert wirkt. Solche emotionalen Prozesse lassen sich kaum abstellen. Außerdem kommt noch etwas sehr schulspezifisches hinzu, das wiederum Veränderungen verhindert: die Verantwortungsdiffusion. Das heißt, dass im Schulsystem oft gar nicht klar ist, wer die Verantwortung trägt. Lehrkräfte wissen schlicht nicht, ob sie überhaupt die Befugnis haben, einfach etwas wegzulassen. Gleichzeitig erlegen sie sich selbst Zwänge auf, die formal gar nicht existieren. In der Summe bedeutet das: De-Implementierung kann schnell scheitern. Nicht unbedingt, weil der Wille fehlt, sondern weil die Hürden so vielfältig sind. Und über allem schwebt diese tief verankerte Vorstellung: Mehr ist besser.
News4teachers: Vieles davon ist aber doch nicht nur ein Problem von Lehrkräften. Wenn ich darüber nachdenke, gibt es das in meinem Beruf auch die Angst, etwas wegzulassen und im Zweifel dadurch weniger engagiert zu wirken.
Buchcover “Weniger macht Schule” zum T