Zu Tode geliked: Ein Streamer stirbt – und das Internet jubelt
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Am Ende des Livestreams muss der Mann, der als Jeanpormanove hunderttausende Follower hatte und eigentlich Raphaël Graven hieß, eine letzte Erniedrigung ertragen: Ein Mitbewohner und Mitstreamer warf mit einer Plastikflasche nach ihm, als er so merkwürdig reglos da lag. Aber da war er bereits tot. Gestorben am Ende eines fast 300-stündigen Livestreams beim Twitch-Konkurrenten Kick. Gestorben nach zehn Tagen voller Erniedrigungen, körperlichen Misshandlungen und psychischer Drangsalierungen.
Ex-Obdachloser, Gamer, Opfer
Jean Pormanove / © JeanPormanove auf X
Raphaël Graven alias Jean Pormanove war Soldat und lebte früher zeitweise als Obdachloser. Er stieg ins Gaming bzw. Streaming ein. Verteilt über die verschiedenen Kanäle, brachte er es auf immerhin über eine Million Follower. Irgendwann zeichnete sich ab, dass die Begeisterung wuchs, wann immer sich Jeanpormanove, kurz JP, dabei aufregte.
Mehr Ärger = mehr begeisterte Fans = mehr Geld. Das ist die simple Formel, die seine Mitstreamer früh durchschauten und zu einem System entwickelten. Sie mussten ihn einfach nur dazu bringen, wütend zu werden. Die Leute zahlten dafür, JP beleidigen zu dürfen. Daraus erwuchs mit der Zeit ein auf Gewalt ausgelegtes Konzept: Seine vermeintlichen Freunde schlugen ihn immer wieder, mal wurde er mit Farbe übergossen, stets angefeuert von der johlenden Masse vorm Screen.
Die Gewaltspirale drehte sich in ungeahnte Sphären, die jetzt in dem für zehn Tage ausgerichteten Livestream mündete. Als dieser letzte Stream in der Sekunde abgeschaltet wurde, als die Männer den Tod von Raphaël bemerkten, lief er bereits 12 Tage. Mein sehr geschätzter Kollege Tom Wannenmacher schreibt auf Mimikama:
Was als Show begann, wurde zum Geschäftsmodell. Laut STANDARD, BBC, Le Monde und weiteren Quellen bestand das Konzept seiner Mitstreamer – Owen Cenazandotti alias „Naruto“ und Safine Hamadi – darin, ihn unter dem Deckmantel des Entertainments zu quälen. Sie inszenierten „Mock Strangulations“, beschossen ihn mit Paintball-Waffen, hielten ihn tagelang wach und spielten mit seiner psychischen und physischen Belastbarkeit – und das live, mit Spendenfunktion, Kommentarfeld, Applaus.
Gewalt wird belohnt
Wie lukrativ dieses absurde Geschäftsmodell mit JP als Opfer war, zeigte sich auch in diesem letzten Stream: Über die Dauer des mehrtägigen Martyriums wurden allein über 50.000 Euro Spenden eingenommen. Angeblich soll die Plattform Kick selbst auch bis zu 2.000 Euro je Streaming-Stunde überwiesen haben.
Damit der Rubel rollen kann, mussten die Männer von Plattform zu Plattform ziehen, denn weder auf TikTok noch bei Twitch durften sie ihre Gewaltexzesse ausleben. Kick ist da augenscheinlich entspannter, war sogar auf X mit dem Kanal der Franzosen. Jeanpormanove wurde von seinen Mitstreitern systematisch in eine Abhängigkeit getrieben. Sie boten ihm Wohnraum, unterstützten ihn finanziell – und lockten ihn mit gespielter Freundschaft, stellten ihm große Reichweite in Aussicht.
Für diese Reichweite spielte er bereitwillig das Opfer, ließ sich immer wieder auf extreme Challenges ein. Der Eindruck, der entstehen konnte: Er macht das alles freiwillig. Er ließ sich für Fame, Geld und vermeintliche Freundschaft beleidigen. Er wurde immer wieder gewürgt, verletzt, angeschrieben, oder am Schlafen gehindert. Sie nahmen ihm mal seine Medikamente weg, immer wieder setzte es Schläge.
Kick ließ all das zu, daher klingt es fast wie Hohn, wenn sich die Plattform jetzt als "zutiefst betrübt" darstellt. Kick will das bessere Twitch sein, ist aber irgendwie auch ein Zufluchtsort geworden für unregulierte Inhalte, die oft weit über das Erlaubte hinausgehen.
Die Schuld tragen nicht nur seine Mitstreamer
Deswegen mögen die Streamer Owen Cenazandotti alias "Naruto" und Safine Hamadi zwar die Hauptverantwortlichen für den Tod sein, aber nicht die Einzigen. Mitschuldig ist definitiv auch die Plattform, die es über Jahre zugelassen hat. All das ist bestens dokumentiert, sogar über Jahre hinweg. User haben ein Google-Drive-Archiv mit über 1.700 Videos zusammengestellt.
Die Journalistin Marie Turcan, tätig für das investigative Onlineportal Mediapart (Paywall), machte laut Tagesschau bereits im letzten Jahr auf die Gewalt in diesen Videos aufmerksam. Kick handelte nicht. Wer ebenso nicht handelte? Die Leute, die zusahen. Sie stachelten das Geschehen weiter an, sie johlten begeistert und sie unterstützten die Gewalt mit Spendengeldern. Aber niemand kam auf die Idee, die Polizei zu alarmieren.
Also ja, wenn ich angewidert über dieses ekelhafte Geschäftsmodell nachdenke, sehe ich mehrere Schuldige: Seine Mitstreamer, die Plattform – und jeden, der sich von den Streams berieseln ließ und all das mit Unterhaltung verwechselte. Das ist wie im Fußballstadion: Da ist es vielleicht nur einer, der einen Gegenstand wirft oder eine rassistische Beleidigung aufs Feld ruft – aber drumherum sind viele, die es zulassen.
Das Ende vom Lied
Der Transparenz halber sei gesagt, dass die erste Obduktion ergab, dass Raphaël Graven nicht durch unmittelbare Gewalteinwirkung ums Leben kam. Es wird jetzt weiter untersucht, ob es medizinische Gründe oder eine Vergiftung gab. Die französische Staatsanwaltschaft hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die französische Staatssekretärin für Digitales, Clara Chappaz, hatte die strafrechtliche Untersuchung angekündigt und sprach von "absolutem Horror".
Nichts davon bringt Raphaël Graven zurück. Zurück bleiben lediglich Plattformen, die mit Gewalt Geld verdienen – und eine Gesellschaft, die so etwas augenscheinlich schulterzuckend akzeptiert. Das ist widerwärtig und ich kann nicht akzeptieren, dass das die Gesellschaft sein soll, in der wir leben. Sind wir wirklich so sensationsgeil? So gierig auf Gewalt? So höhnisch? Und so abgestumpft und gleichgültig?
Bitte unterstützt so etwas nicht! Meldet solche Inhalte, wenn sie Euch begegnen – und meldet es den Behörden, wenn die Plattformen nicht einschreiten. Ich hoffe, dass JPs Tod ein Weckruf ist. Hier sind Regierungen gefragt, Plattformen wie Kick, aber vor allem wir alle! Lasst so etwas nicht zu! Wir leben in einer Welt, in der Klicks und Likes regieren. Höchste Zeit, sich dagegen zu wehren. Empathie, Integrität, Respekt und vor allem das menschliche Leben sollten immer mehr wert sein als Klicks, Likes und miese Geschäftsmodelle.
Ein Satz noch: Es gibt unzählige Videos, Bilder und Dokumente, die belegen, was der Mann erdulden musste. Ich hab hier nichts davon gezeigt und nichts verlinkt. Aus JP wurde ein Opfer gemacht, eine Witzfigur. Das muss ein Ende haben, daher habe ich darauf verzichtet, diesen Zirkus posthum weiterzuführen.
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August 24, 2025 at 10:02AM