Was im AfD-Gutachten steht (und was nicht)
https://correctiv.org/aktuelles/debatte-um-afd-verbot/2025/05/15/was-im-afd-gutachten-steht-und-was-nicht/
Das AfD-Gutachten liegt vor. Wir haben es geprüft und halten den Leak für echt.
Neu ist die Fülle an Belegen. Auf über 1000 Seiten analysiert der Verfassungsschutz die vergangenen vier Jahre im Detail. Dessen Fazit: Die AfD ist gesichert rechtsextrem.
Das Gutachten nennt etwa 350 AfD-Abgeordnete und weitere Personen aus ihrem Umfeld, darunter Erika Steinbach von der Desiderius-Erasmus-Stiftung und den rechtsextremen Aktivisten Martin Sellner. Es werden auch Personen mit Vor- und Nachnamen genannt, die keine öffentlichen Ämter bekleiden, darunter einfache AfD-Mitglieder.
Wie das Gutachten geleakt wurde
Am 2. Mai erklärte der Verfassungsschutz per Pressemitteilung die AfD als gesichert rechtsextrem, ohne Belege zu veröffentlichen. Die AfD klagte dagegen und erhielt am 9. Mai Einsicht in das 1000-seitige Gutachten.
Derzeit gilt eine Stillhalte-Vereinbarung: Der Verfassungsschutz schweigt öffentlich, bis das Gericht im Eilverfahren entscheidet.
Am 13. Mai gelangte das vollständige Gutachten über mehrere Medien an die Öffentlichkeit.
Gutachten: Die AfD ist heute professioneller, populärer und homogener
Vor einigen Jahren sah der Verfassungsschutz noch gemäßigte Kräfte in der AfD, die sich von verfassungsfeindlichen Gedanken distanzieren könnten. Doch das sei nicht geschehen, obwohl die Partei wusste, dass sie beobachtet wird.
Im Gegenteil: Der Verfassungsschutz schlussfolgert, dass es aktuell keine nennenswerten Kräfte mehr in der Partei gibt, die zu einem rechtskonservativen Kurs zurückkehren wollen. Verfassungsfeindliche Ziele prägen demnach inzwischen den Charakter der AfD.
Die AfD ist laut Verfassungsschutz heute professioneller und ihre Leute agieren linientreuer als beim vorigen Gutachten von 2021.
Die AfD ist laut Verfassungsschutz völkisch und muslimfeindlich
Für die Einstufung als rechtsextrem sind laut Verfassungsschutz in diesem Fall zwei Aspekte entscheidend: völkisches Denken und Muslimfeindlichkeit. Beides ist aus Sicht der Verfassungsschützer klar belegt.
Das bedeutet: Wer heute in der AfD aktiv ist, bewegt sich demnach in einer Partei, die zwei zentrale Ansichten verbreitet: Menschen mit Migrationsgeschichte seien Deutsche „zweiter Klasse“. Und: Muslime seien gefährlich und gehörten nicht zu Deutschland. Beides widerspräche dem Grundgesetz, wonach alle Staatsbürger gleich sind, unabhängig von Religion, Hautfarbe oder Herkunft.
Starker Verdacht auf Demokratiefeindlichkeit bei der AfD
Die Verfassungsschützer haben geprüft, wie die AfD zu Demokratie und Rechtsstaat steht. Das Ergebnis: Es bestehe ein „starker Verdacht“ auf Demokratiefeindlichkeit, doch eine verfassungsrechtlich relevante Einstellung lasse sich nicht erhärten.
In der AfD kursiere die Erzählung, Deutschland sei fremdgesteuert – etwa durch die USA, „globale Eliten“ oder eine „Deutschland GmbH“. Politiker anderer Parteien würden teils als „Marionetten“ fremder Mächte verächtlich gemacht. Solche Aussagen gelten als demokratiefeindlich, da sie das Vertrauen in die Demokratie untergraben sollen.
Wenig Belege für Antisemitismus in der AfD
Der Verfassungsschutz sieht „vergleichsweise wenig Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Tendenzen in Bezug auf den Rechtsstaat. Nur teilweise behaupteten AfD-Funktionäre, dass beispielsweise Gerichte nicht unabhängig seien.
Auch Antisemitismus spielt laut Verfassungsschutz keine zentrale Rolle in der AfD, obwohl versteckte antisemitische Narrative rund um vermeintliche „Globalisten“ existieren.
Gutachten: Keine Abkehr von der „Jungen Alternative“
Die Einschätzung als „gesichert rechtsextrem“ stützt sich im Kern also auf zahlreiche Belege für völkische und islamfeindliche Äußerungen. Beide Aspekte sind laut Verfassungsschutz gut dokumentiert.
Auffällig ist die Bewertung der „Jungen Alternative“. Die AfD trennte sich im Januar öffentlichkeitswirksam von ihrer rechtsextremen Parteijugend. Die Verfassungsschützer bleiben skeptisch und sehen keine tatsächliche Abkehr von den verfassungsfeindlichen Zielen der Jungen Alternative.
Bild: Torsten Sukrow / SULUPRESS.DE / picture alliance
Wie der Verfassungsschutz arbeitet
Die Verfassungsschützer stützen ihre Analyse offenbar auf öffentliche Aussagen von AfD-Funktionären. Das Gutachten nennt keine geheimen Quellen, sondern verweist größtenteils auf Facebook- und X-Beiträge, YouTube-Videos, Interviews und Bücher. Ein Beispiel für die Arbeitsweise der Verfassungsschützer ist die Untersuchung des Begriffs „Remigration“.
Anhand von etwa 100 Zitaten zeigen die Verfassungsschützer, wie Mandatsträger der AfD den Begriff verwenden – in Ortsgruppen, Landesverbänden, in sozialen Medien, in TV-Duellen und in ihrem Mitgliedermagazin.
Am Ende ziehen die Verfassungsschützer ein klares Fazit: Die AfD nutzt das Schlagwort „Remigration“, um die „systematische Abschiebung bestimmter Bevölkerungsgruppen“ ohne Einzelfallprüfung zu fordern.
Björn Höcke versuche zwar, seine „wahren Absichten“ aus „taktischen Motiven“ zu verschleiern, doch die AfD-Spitze distanziere sich nicht überzeugend von diesem Verständnis des Begriffs.
Folgen für ein mögliches AfD-Verbot
Die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextremistisch führt nicht automatisch zu einem Verbot der Partei. Dafür gelten hohe Hürden. Das Bundesverfassungsgericht hätte darüber in einem aufwändigen Verfahren zu entscheiden – vorher müsste der Bundestag, Bundesrat oder die Bundesregierung ein Verbot beantragt haben.
Zentral für ein Verbot ist die Frage, ob die AfD ihre Worte in Taten umsetzen würde. Beispielsweise, ob sie an der Macht tatsächlich Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben würde. Und zwar pauschal als Teil einer bestimmten Bevölkerungsgruppe und ohne Einzelfallprüfung, wie es einige AfD-Politiker fordern. Diese Frage beantwortet das Gutachten nicht, da das nicht Aufgabe des Verfassungsschutzes ist.
Das lange Warten auf das AfD-Gutachten
Das Gutachten war laut Verfassungsschutz im November 2024 fertig. Wegen vorgezogener Bundestagswahlen wurde es zurückgehalten – um die Wahlen nicht zu beeinflussen.
Am 2. Mai erklärte der Verfassungsschutz die AfD als gesichert rechtsextrem. Die Einstufung war eine der letzten Amtshandlungen der scheidenden Innenministerin Nancy Faeser (SPD), bevor sie an den neuen Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) übergab.
Der ethnisch-kulturelle Volksbegriff in der AfD
CORRECTIV hat in Recherchen wie „Geheimplan gegen Deutschland” und „Volk der Rechtsradikalen” die Gefahren der völkischen Ideologie aufgezeigt. Dabei geht es um einen „ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff“, wie ihn der Verfassungsschutz jetzt der AfD attestiert.
Das Gutachten beschränkt sich nicht auf prominente Figuren wie Maximilian Krah oder Björn Höcke, sondern zitiert zahlreiche Funktionäre und Mandatsträger aus der gesamten Partei.
Maximilian Krah auf dem Bundesparteitag der AfD im Juli 2023 (Quelle: Sven Simon / Frank Hoermann / Picture Alliance)
Es zeigt, wie der ideologische Kopf der Identitären Bewegung, Martin Sellner, mit seinem Konzept der „Remigration“ in der AfD Gehör findet. Wie CORRECTIV aufdeckte, präsentierte Sellner seinen „Masterplan“ auf der Konferenz Ende 2023 in Potsdam und in Videos des rechtsextremen Magazins Compact. Damit zielt er auch auf „nicht-assimilierte Staatsbürger“ ab.
Mehrere Gerichte, darunter das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und das Verwaltungsgericht in München, stuften 2024 das Konzept der „Remigration” als „verfassungswidrig“ ein und sehen es im Widerspruch gegen die Menschenwürde.
Im Gutachten verweist der Verfassungsschutz auf das Oberverwaltungsgericht Münster. Dies stellte klar, dass eine Diskussion über Herkunft, Kultur und Identität von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Doch sobald solche Äußerungen ins Diskriminierende kippen, überschreiten sie die verfassungsrechtlichen Grenzen.
Entscheidung des OVG Münster
Das OVG Münster hat bei der Prüfung, ob die AfD als Verdachtsfall vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf, folgendes Kriterium für Verfassungswidrigkeit aufgestellt: Die Verbindung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“ mit einer „politischen Zielsetzung“, die „die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage stellt“.
Die Richter stellten fest, dass eine „große Anzahl gegen Migranten gerichteter Äußerungen“ darauf hindeute, Teile der AfD könnten bei entsprechenden Machtverhältnissen „Maßnahmen ergreifen“, die auch „deutsche Staatsbürger mit Migrationsgeschichte diskriminieren“.
Das OVG Münster wird sich voraussichtlich demnächst auch mit diesem Gutachten beschäftigen.
„Passdeutsche“ und „Bevölkerungsaustausch“
Das aktuelle Gutachten scheint die Vorgaben des Gerichts als erfüllt zu bewerten. Es liefert zahlreiche Belege, dass Menschen mit Migrationsgeschichte als kollektive Bedrohung und deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund als „Passdeutsche“ diffamiert werden.
Es dokumentiert, wie AfD-Funktionäre Konzepte aus der rechtsextremen Ideologie in öffentlichen Debatten nutzen. Etwa die eines geplanten „Bevölkerungsaustauschs“ oder des Ethnopluralismus, der davon ausgeht, es gebe unveränderliche Eigenschaften von bestimmten Völkern. Dabei werden laut Verfassungsschutz „autochthone Deutsche“ und „Deutsche mit Migrationsgeschichte“ gegeneinander ausgespielt.
Gutachten: „Remigration“ im Kern der AfD
Begriffe wie „Remigration“ und „Bevölkerungsaustausch“, die rechtsextreme Ideologen wie Martin Sellner geprägt haben, gehören laut Gutachten fest zum politischen Vokabular der AfD. Sellner beruft sich auf den NS-Juristen Carl Schmitt, der nationale Homogenität als Voraussetzung für Demokratie forderte. Diesen Bezug übernehmen AfD-Funktionäre.
Das Gutachten zitiert einen Facebook-Post von Andreas Harlaß, Mitglied des AfD-Landesvorstands in Sachsen-Anhalt, vom 26. Februar 2022. Darin wiederholt Harlaß Schmitts Aussagen und fordert von Menschen mit Mig