Evaluation der Wirksamkeit von Corona-Maßnahmen in Deutschland: Was der RKI-Abschlussbericht sagt – und was er nicht sagt
Am 20.07.2023 veröffentlichte das Robert-Koch-Institut einen Projektabschlussbericht zum StopptCOVID-Projekt,
in dem die Effektivität der Corona-Maßnahmen in Deutschland untersucht werden soll. Diese Studie hat den
Anspruch, die Wirksamkeit einer großen Menge einzelner pharmazeutischer (Impfung) und
nicht-pharmazeutischer Interventionen (z.B. Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen) auf das
Infektionsgeschehen zu überprüfen.
Hierbei wird ein übliches statistisches Analyseverfahren – ein sog. Regressionsmodell – verwendet, mit dem der
zeitliche Verlauf der Corona-Wellen – gemessen anhand des bekannten „R-Wertes“ – zu erklären versucht wird.
Die Modellanalyse liefert Ergebnisse, die dahingehend interpretiert werden, dass nahezu jede getroffene
Maßnahme den gewünschten Effekt – also eine Minderung des Infektionsgeschehens bzw. eine Senkung des
R-Wertes – hatte. Darüber hinaus wird in der Studie festgestellt, dass bei vielen Maßnahmen die gewünschte
Wirkung bereits vor ihrem Inkrafttreten eingetreten ist, was mit freiwilligen Verhaltensänderungen – genauer:
einer Antizipation der Maßnahmen durch die Bevölkerung – erklärt wird. Weiterhin wird ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass Maßnahmen nur im Verbund mit anderen Maßnahmen ihre volle Wirkung entfalten.
Da es sich bei der RKI-Untersuchung um eine quantitative Modellierungsstudie handelt, die den Anspruch
erhebt, kausale Einflüsse von Maßnahmen auf das Infektionsgeschehen nachzuweisen, ist es notwendig, das zu
Grunde gelegte methodische Konzept sowie die aus den Modellergebnissen getroffenen Schlussfolgerungen
einer kritischen Prüfung zu unterziehen, wie es beispielsweise in Begutachtungsprozessen bei
wissenschaftlichen Fachzeitschriften unternommen wird. Hierbei zeigt sich, dass die RKI-Studie dem
wissenschaftlichen Anspruch, derartige Aussagen zu treffen, nicht genügt.
Erstens wird bereits ein Studienkonzept gewählt, mit dem es gar nicht möglich ist, kausale Einflüsse von
Interventionen zu überprüfen; hierfür wäre ein anderer Modelltyp aus dem Bereich der sog. Kausalinferenz von
Nöten. Vereinfacht ausgedrückt kann der gewählte Modellansatz nur überprüfen, ob das Infektionsgeschehen
nach Einsetzen einer Maßnahme geringer war als davor oder danach; es kann damit nicht überprüft werden, ob
das Infektionsgeschehen auch aufgrund dieser Maßnahme gedrosselt wurde. Doch auch schon im ersten Punkt
wird der genannte Nachweis nicht erbracht, da die gewünschte Wirkung zum Teil bereits zeitlich vor dem
Einsetzen der Maßnahmen erfolgte.
Zweitens gibt es in der Modellanalyse eine Reihe weiterer Probleme, die, unabhängig vor der Wahl des
Modelltyps, eine Ableitung belastbarer Aussagen erschweren. Hierzu gehört unter anderem, dass für das Modell
Annahmen zur höheren Übertragbarkeit der späteren Virusvarianten getroffen werden, die einfach in das Modell
„gesetzt“ werden und die gleichzeitig die Modellergebnisse stark beeinflussen. Die Wirkung von
Corona-Maßnahmen wird im vorliegenden Modell nicht ergebnisoffen geprüft, sondern zum Teil bereits durch das
Modelldesign vorausgesetzt. Weiterhin werden auch einige Gütekriterien für derartige Modellanalysen, wie sie in
der Fachliteratur aus den Bereichen Statistik/Ökonometrie behandelt werden, verletzt bzw. ihre Behandlung wird
nicht dokumentiert. Hinzu kommen Probleme in der Berechnung des R-Wertes und Verzerrungen in dessen
Datengrundlage.
Drittens sind auch wesentliche Schlussfolgerungen der Studie nicht durch deren eigene Modellergebnisse
gesichert. Dass die Bevölkerung Maßnahmen „freiwillig vorweggenommen“ habe, ist lediglich eine Behauptung,
die sich nicht ausreichend belegen lässt und für die sich sogar Gegenbeispiele finden lassen. Einige Ergebnisse
sind widersprüchlich - zum Beispiel ein kontraproduktiver Effekt von Masken in bestimmten Altersgruppen -, ohne
dass diese paradoxen Ergebnisse inhaltlich erklärt werden. Auch die Aussage, wonach Maßnahmen erst „im
Verbund“ eine ernsthafte Wirkung haben, ist in dieser Pauschalität bereits logisch nicht nachvollziehbar und wird
durch die RKI-Studie auch nicht belegt.
Wir empfehlen daher eine Neubearbeitung der Studie auf der Grundlage des bestehenden Datensatzes
(Re-Analyse) durch eine unabhängige Instanz. Vor diesem Hintergrund empfehlen wir weiterhin die
Veröffentlichung des zugrunde gelegten Datensatzes sowie des Quellcodes der Auswertung.